Viktoria Binschtok
Bilder sind Indikatoren für die Zeit und das System, in dem sie entstehen.

LA

Denkt man an deine Bilder, denkt man an den endlosen Strom fotografischer Bilder im Netz. Aus diesem unendlichen Raum beziehst du deine Bilder, die du in deine Werke verwandelst. Wie gehst du in diesen Raum?

VB

Am Anfang meiner künstlerischen Auseinander­setzung steht die Arbeit Globen von 2002, die gleichzeitig meine Abschlussarbeit an der Kunsthochschule war. Bereits damals hatte ich das Netz als Speicher von Bildern für mich entdeckt. Vorher – und ich komme ja aus dem Vorher und war an dem Übergang vom Analogen zum Digitalen hautnah dabei – war das Foto ein physisches Objekt. Und das wurde nun hier – im Netz – abgelegt und verschlagwortet. Plötzlich hatte man die Möglichkeit, ein Motiv mehrmals zu taggen oder mit anderen Bildern zu kombinieren, ein Umstand, der vorher mehrere physische Archive erfordert hätte. Das war eine große Entdeckung, der ich nachgehen wollte. Die Arbeit Globen bezog die damals neue Plattform Ebay mit ein und stellte für mich eine neue Form der Interaktivität und des Austauschs von Bildern dar. Vorher waren Bildarchive ja den Museen oder Redaktionen vorbehalten oder man hatte ein privates Archiv, aber hier wurden völlig neue Rahmen­bedingungen für die Verfügbarkeit von Bildern geschaffen.

LA

Was bei deiner Arbeit der Globen beeindruckend ist, ist die semantische Verschränkung: Denn die Arbeit spielt einerseits auf das World Wide Web an, andererseits ist die Beschäftigung mit dem Objekt des Globus, das auf der Plattform Ebay angeboten wird, zentral.

VB

Genau, es ging um den Globus als Modell unserer Welt, aber auch um die spürbar aufkommende Globalisierung – und auch um die Überholung des physischen Objekts des Globus durch immaterielle Informationen. Denn das Objekt ließ sich nicht aktualisieren, während sich die geopolitischen Grenzen beispielsweise veränderten. Im Gegensatz dazu konnte man diese Informationen im Netz jederzeit aktualisieren. Das Objekt wurde somit plötzlich obsolet und deshalb auf Ebay verschleudert. Außerdem interessierte mich die Verknüpfung zwischen Wort und Bild im digitalen Raum. Ich tippte ein Wort ein und bekam sofort die Ergebnisse zu sehen, also Abbildungen, die mit dem Begriff verknüpft waren. Das empfand ich als eine Art Ermächtigung der Bilder, zu denen ich sonst keinen Zugang hatte. Aber mithilfe dieser Suchmaschine und über dieses Wort gab es diesen Zugang dann plötzlich. Ich habe zunächst alle möglichen Begriffe eingetippt, um zu sehen, welche Bilder herauskommen. Es gab tatsächlich keinen Begriff, der nicht mit einem Bild verknüpft war. Dass scheinbar alles bebildert und Sprache mit Bildern verknüpft war, fand ich sehr spannend. Irgendwann bin ich auf den Begriff Globus gekommen. Dieser Begriff ließ mich darüber nachdenken, wie sich inzwischen die Welt durch Vernetzung und Globalisierung veränderte. Zugleich hatte ich auf der Plattform Ebay die Möglichkeit zur Interaktion mit den Verkäufer*innen der Objekte. Für mich waren sie auch Bildautor*innen, deren Bilder ich mir angeeignete, indem ich sie vom Bildschirm abfotografierte und sie dadurch zu meinen erklärte. Parallel dazu ersteigerte ich die Globen, die ich fotografierte. Und das war auch ein wichtiger Aspekt: eine fotografische und installative Arbeit zu schaffen, ohne mich vom Schreibtisch wegzubewegen. Sowohl die Bildfindung als auch den Transfer der Globen durch den Einkauf konnte ich vom Studio aus erledigen. Die Pakete kamen zu mir. Zugleich bekam ich die Daten zu den Autor*innen der Globenbilder, also zu den Personen, die vorher für mich anonym gewesen waren. Ich hatte durch die Transaktion ihre Anonymität aufgehoben und erfuhr nun ihre Klarnamen. Auf den Paketen stand jeweils, von wem und woher sie kamen, ich konnte sie jetzt verorten. Das alles spielte eine wichtige Rolle für mich. Und auch letztendlich die Objekte, die sich in diesen Kisten befanden und die unterschiedlich verpackt waren. Die gesammelten Bilder vergrößerte ich auf eine einheitliche Größe von 40 × 50 cm. Die Pakete waren jedoch unterschiedlich groß. Dadurch wurde diese Illusion, die man in den fotografischen Repräsentationen sah, ambivalent – ein großes Paket oder ein kleines Paket stand im Gegensatz zu einer bestimmten Größe der Abbildung der Globen. Das war auch ein Teil der Überlegung: Wie funktioniert fotografische Repräsentation im selben Raum, in dem sich ebenfalls die abgebildeten Objekte befinden, die durch ihre Verpackung jedoch nicht zu sehen sind.

LA

Deine Überlegungen legen nahe, dass du dich von Beginn an mit den neuen Zirkulationsweisen von Bildern im Netz intellektuell auseinandergesetzt hast. Gleichzeitig spricht aus deiner Arbeit ein Moment der Experimentierfreude. So klar und konzeptionell durchdacht am Ende (alle) deine Arbeiten sind und so sehr du ja sicherlich auch eine kritische Userin des Netzes bist, hast du dir einen spielerischen Umgang erhalten. War für dich von Beginn an klar, dass du im digitalen Raum die Grundlage für deine fotografisch-künstlerische Praxis finden würdest?

VB

Nein, gar nicht. Diese Arbeit – also die Globen – war auch für mich zu dem Zeitpunkt völlig überraschend. Da habe ich gar nicht in die Zukunft gedacht oder daran, welchen Weg ich einschlage. Ich habe damals einfach viel darüber nachgedacht, was diese digitale Veränderung für die Fotografie bedeutet. Durch die Digitalisierung wurde plötzlich noch unklarer, was Fotografie eigentlich ist. An dieser Unklarheit habe ich mich abgearbeitet: Ich war ja mittendrin, Fotografie zu studieren. Kunst natürlich im weitesten Sinne – aber Fotografie im Speziellen. Und plötzlich kommt da so eine neue Technologie, die alles über den Haufen wirft und zu neuen Über­legungen führt, womit man sich da beschäftigt. Diese Einschreibung von Licht auf einen lichtempfindlichen Träger und die damit verbundene irreversible Verbindung von Bild und Objekt war keine zwingende Voraussetzung mehr für eine Fotografie. Auf dem Chip lassen sich die Daten bewegen, löschen, umkopieren, mehrmals kopieren und man hat immer die gleichen Bilder, identische Kopien. Mich interessierte der Zustand, in dem das Bild nicht sichtbar ist, da der Rechner aus und der Screen dunkel ist. Das Bild muss sich ja irgendwo befinden. Aber anders als bei einem analogen Foto in einer Box ist eine digitale Datei im Ruhezustand des Rechners nicht physisch vorhanden. Es muss immer erst in Licht übersetzt werden, um am Monitor gesehen werden zu können. Die Decodierung ist also Voraussetzung für die Lesbarkeit des Bildes. Diese Gedanken lagen meiner Arbeit zugrunde.

LA

Was ist von dieser Art des Herangehens geblieben?

VB

In den neuen Arbeiten ist geblieben, dass ich das flüchtige JPEG immer wieder in einen Raum übersetze, in ein physisches Bild. Die Form der Aneignung hat sich jedoch verändert. Ich benutze nicht mehr die vorhandenen Daten, sondern lediglich die Kompositionen, die ich im Netz vorfinde. Diese Bildideen eigne ich mir an und fotografiere sie neu. Es entstehen neue Bilder mit Hilfe meiner Kamera, die auf gefundene Bilder verweisen. Diese Bilder verknüpfe ich wiederum mit Bildern, die ich zuvor selbst gemacht habe. Es gibt zwei Bilderpools bei mir: die Bilder, die ich einfach so ohne Anlass fotografiere, weil ich das Motiv spannend finde. Das sind sozusagen Archivbilder, die ich ablege.

LA

Bilder, die du also im physischen Raum findest?

VB

Die ich im physischen Raum finde, ja. Die tatsächlich impulsiv entstehen. Ich bin zwar keine Fotografin oder Künstlerin, die aus dem Bauch heraus etwas schafft. Aber ich finde es zu schade, ein Bild nicht zu machen, wenn ich etwas sehe, und deshalb mache ich es einfach. Bilder, die ich auf Reisen fotografiert habe, die einfach auf meine Sicht auf die Welt verweisen. Bei den Cluster oder Networked Images sieht man immer wieder Bilder aus der physischen Welt. Und dann sind diese Bilder eben oft verknüpft mit sonderbaren Details, mit Bildern, die man gar nicht einordnen kann. Die scheinen so speziell zu sein, entrückt von irgendwelchen weiteren Informationen. Und sie verweisen eben auf meinen zweiten Bilderpool, auf ein digitales Bild, das ich im digitalen Raum finde und das ich dort herauslöse und mit meinen Ausgangsbildern zusammenstelle. Bei diesen Arbeiten spielen wiederum Begriffe keine Rolle mehr, da es tatsächlich um eine Bild-zu-Bild-Suche geht. Ich stelle ein Beziehungsgeflecht nur über visuelle Analogien dar und nicht mehr über Sprache. Diese Idee hatte ich eigentlich schon, noch bevor ich wusste, dass es so eine Möglichkeit der Bildersuche gibt oder geben wird, diesen Algorithmus, der ermöglicht, Bilder nach Bildern zu suchen. Nachdem ich ja bereits mit Bildern und Begriffen gearbeitet hatte, musste der nächste Schritt sein, mit Bildern nach Bildern zu suchen und dadurch ein neues Archiv oder eine neue vernetzte Struktur darzustellen. Viele Jahre später war es dann möglich.

LA

Das ist das Neuartige an den Cluster: dass sich Bilder gegenseitig suchen und damit ein bestimmter Referenzrahmen, den wir über Sprache herstellen, wegfällt. Denn klassische Archive funktionieren ja über Verschlagwortungen, die auf Sprache basieren: Wir organisieren nach Namen, Orten, Daten, Themen. Welche Parameter greifen bei deinen Bildersuchen?

VB

Der Algorithmus sucht nach Kriterien wie Form, Farbe, Struktur. Und diesen Algorithmus habe ich mir als Partner für meine Arbeit ausgewählt. Das ist natürlich ein tolles Tool, um sich einen Überblick über das Angebot der Bilder zu verschaffen, die zu diesem Zeitpunkt weltweit verfügbar und öffentlich zugänglich sind. Denn als Mensch schaue ich anders auf die Bilder. Ich bin voreingenommen. Ich stecke in meiner Haut und habe bestimmte Vorlieben, Interessen. Auch wenn ich versuche, völlig neutral zu gucken, fühle ich mich zu bestimmten Bildern hingezogen. Oder ich habe vielleicht gar keinen Zugriff auf bestimmte Bilder, da ich noch nicht einmal von ihrer Existenz weiß. Und dieser Suchalgorithmus hilft mir, nach eben diesen Bildern zu suchen. Er bekommt von mir dieses eine Bild, das ich hochlade und das meins ist, mit dem Auftrag: Such mir sofort alle ähnlichen Bilder.

LA

So entziehst du den Bildern eine genaue Beschreibbarkeit, denn in deinen Tableaus wirken ja teilweise kuriose Verbindungen. Die Bilder wirken als Bilder und werden nicht, wie es bei der Fotografie ja auch oftmals so naheliegend ist, von Zuschreibungen überdeckt.

VB

Ja, es geht um die Bilder als Phänomene als solche. Dass man die Bilder anschaut fernab ihres Ursprungs und Kontextes. Dadurch, dass ich sie aus diesen Einbettungen heraushole und sie neu zusammen­setze, erfinde ich einen neuen Sinn für sie. Ich verstricke sie mit anderen Bildern. Meine Idee war es, diesen wachsenden Bilderfluss anzuhalten und kurz etwas aus ihm herauszuholen, um zu zeigen: Das ist Teil davon, was uns im Moment auf dieser Welt umtreibt, und das wird mit diesen Bildern deutlich. Deshalb arbeite ich schon seit einiger Zeit daran. Denn erst durch die Fülle dieser Arbeiten wird ein gewisser Zeitgeist überhaupt sichtbar. Oder bestimmte Bildphänomene oder Themen bilden sich ab. Das kann ich nicht mit zwei, drei, vier Arbeiten abbilden. Da bedarf es mehr. Es hat sich sehr schnell abgezeichnet, dass es vor allem Produktbilder sind, die sich im Umlauf befinden. Dabei gibt es auch indirekte Formen der Werbung. Bilder auf Instagram verkaufen einen Lifestyle oder Schönheitsideale und so weiter. Aber sie transportieren das oft sehr diskret oder ohne Markennennung. Im Grunde sind diese Bilder auch nur Teil von Verkaufsstrategien. Das war unter anderem eine Erkenntnis, die durch diese Bildrecherche sichtbar wurde. Bilder sind Indikatoren für die Zeit und das System, in dem sie entstehen.

LA

Das heißt Produktfotografie ist stärker ausgeprägt als Kriegsfotografie, Landschaftsfotografie, Porträtfotografie und so weiter?

VB

Ja, wobei Produktbilder auch aus diesen verschiedenen Genres stammen können, zumindest im Netz, in dem alle Bilder auf gleiche Weise in Erscheinung treten: auf unseren Bildschirmen. Offline verhält es sich anders mit den unterschiedlichen Bildkategorien, denn wir treten bereits mit einer Erwartungshaltung an die Bilder heran. Wenn wir ins Museum gehen, erwarten wir Kunst, in Zeitschriften sehen wir Kriegsaufnahmen, Dokumentarfotografien und in Familienalben private Erinnerungsbilder. Doch wenn ich Bilder nach Bildern suchen lasse, dann bekomme ich Bilder, die diese Referenzrahmen nicht mehr haben, da sie beliebig verknüpft werden können. Ihr Standpunkt kann jederzeit geändert werden. Zudem sind es Bilder, die oft nur im Internet existieren. Und das interessiert mich besonders: Bilder zu finden, die es im physischen Raum gar nicht gibt. Diese Bildfunde möchte ich herausholen und ihnen eine Form geben, indem ich Allianzen mit meinen Bildern schaffe. Eine Idee dabei ist auch, dass ich nicht nur Bilder anderer heranziehe oder heraussuche, sondern dass ich auch meine teile. Ich beteilige mich an diesem Sharing-System: Bilder teilen, Information teilen und so weiter. Aber genauso bediene ich mich auch. Und dieser Austausch funktioniert eben über meine Bilder, die ich persönlich finde und die ich benutze, um wie mit einem Magnet andere herauszulösen. Diese Arbeiten sind letztendlich von mir gestaltet, nach völlig eigenen Kriterien und Empfindungen. Da gibt es keine Vorgabe und auch keine Routine. Ich denke mit jeder Arbeit neu darüber nach, wie sie am Ende aussehen wird.

LA

Für welches Bild entscheidest du dich und warum?

VB

Darauf gibt es keine klare Antwort. Wenn es bei Sucheingaben 200 Ergebnisse gibt, dann schaue ich mir die an. Oft springen mir Bilder entgegen, von denen ich denke, dass sie sich formal gut mit meinem Ausgangsbild verbinden. Aber es sind immer wieder neue Kriterien. Ich möchte mich in meinen Arbeiten nicht wiederholen, weshalb ich möglichst vielfältige Abbildungen und Formen kombiniere.

LA

Deine Ausstellung in der Galerie Klemm’s, Not Until Tomorrow (2020),1 sah durch das Schaufenster der Galerie betrachtet wie ein Schreibtisch am Rechner aus: viele kleine Bilderhaufen. War das ein Look, den du in der Konzeption der Ausstellung mitgedacht hast?

VB

Ja, auf jeden Fall. Mit der Ausstellung habe ich versucht, diese jahrelange Beschäftigung auf den Punkt zu bringen. Ich wollte die Fülle abbilden und gleichzeitig auch die Möglichkeit haben, diese Fülle zu durchschreiten. So kam ich auf die Schichtungen, auf die verschiedenen Ebenen. Diesen Eindruck kennen wir vom Monitor, wenn mehrere Fenster gleichzeitig geöffnet sind. Ich dachte dabei auch an eine Timeline. Auf einer Timeline kann man Bilder auch durchschreiten. Die Idee war, verschiedene Pfade durch einen Bilderwald zu ermöglichen. Und was mir auch wichtig bei dieser Installation war: dass es die Möglichkeit gab, auch kein Bild zu sehen. Wenn man durch den Raum bis an die hintere Wand durchging und sich umdrehte, sah man all die Schichten und Ebenen von Bildern von hinten und so auch Informationen, die bei einer klassischen Hängung an der Wand nicht sichtbar wären. Ich wollte die Rückwände der Bilder zeigen: Wie sind diese Bilder, die für ein Kunstsystem gemacht wurden, beschaffen, gerahmt, signiert und so weiter. Analog zu digitalen Bildern sind diese Informationen Metadaten, sie sind mit dem Bild verknüpft, jedoch nicht sichtbar. Das war die Idee: Zum einen können die Bilder frontal und damit rein visuell erfasst werden, zum anderen decodiert man Informationen der Rückseiten. Damit thematisiere ich die Bildproduktion, die viele Informationen jenseits des Visuellen verarbeitet. Wir ‚Endkonsument*innen‘ von Bildern sehen schließlich nur die Oberflächen.

LA

Da kommt einem das Kapitel der Rückseiten in der Ausstellung des Bilderatlas Mnemosyne von Aby Warburg in den Sinn.2 Mit den Rückseiten wurde klar, dass diese Bilder durch unterschiedliche Hände gegangen sind und unterschiedliche Bearbeitungsgrade erfahren haben. Sie wurden von unterschiedlichen Archivar*innen beschriftet und damit in unterschiedliche Ordnungssysteme eingepflegt – also auch so eine Art Metadaten der Bilder.

VB

Natürlich ist mir dieser Begriff der „Migration der Bilder“ zuerst im Zusammenhang mit dem Bilderatlas Mnemosyne begegnet. Dass Bilder wandern und sich von Epoche zu Epoche fortsetzen, ist eine faszinierende Erkenntnis.

LA

Man könnte auch an das Programm Time Machine denken, wo sich ja Ort, Datum und Zeit in das Bild einschreiben. Das hast du in der Ausstellung quasi in den physischen Raum übertragen. Da stellt sich die Frage, ob es so etwas wie ein unschuldiges Bild oder ein nicht verortetes Bild gibt. Weil sich ja in jedes Bild etwas einschreibt – eine Information, die immer, ob sichtbar oder nicht, vorhanden ist. Gibt es ein Bild, das ortlos oder zeitlos existieren kann?

VB

Ich weiß nicht, ob es das gibt. Für mich sind Betrachter*innen auch Teil des Systems „Bild“ und diese können alles und nichts in dem Bild sehen. Was wir in Bildern sehen, kann völlig unterschiedlich sein. Das Sehen ist ja an Assoziationen geknüpft. Jede*r hat individuelle Assoziationen. Es ergeben sich auch kulturell bedingt unterschiedliche Leseweisen. Und diesen Moment hebe ich auf, indem ich Zufallsfunde verknüpfe, die losgelöst von ihrer Message existieren. Auf die Assoziationen der Betrachter*innen habe ich jedoch keinen Einfluss, die kann ich nicht berechnen. Und das finde ich interessant, dass ich mit meinen Networked Images etwas sehr Abstraktes schaffe– und trotzdem assoziieren wir unsere eigenen Geschichten hinein oder denken, diese Bilder gehörten vielleicht doch zusammen. Also: Das Auge sieht die Bilder zusammen, aber der Kopf sagt: Nein, das passt eigentlich nicht sinnvoll zueinander. Da entsteht diese Diskrepanz: etwas mit eigenen Augen sehen und die Dinge visuell miteinander zu verbinden, aber es zugleich intellektuell nicht begreifen zu können. So entstehen auch Fake News. Etwas klingt plausibel und man denkt, dass die Information stimmen muss. Und zugleich sollte man diese Information hinterfragen. So funktioniert auch Fotografie. Im Prinzip kann man mit Fotografie alles darstellen und behaupten: So ist es gewesen. Und im gleichen Moment kann man genauso sagen: Es war alles ganz anders als dargestellt.

LA

Und zugleich hast du vorhin gesagt, dass du ein Verlangen verspürst, viel zu produzieren, um zu einem repräsentativen Bild zu kommen.

VB

Durch die Bewegung des Bilderpools kann es immer nur Moment­aufnahmen geben, ich steche punktuell hinein in diesen ständigen Durchlauf. Ich denke nicht, dass ich etwas Allgemeingültiges darstellen kann, weil ich aus diesem Pool der Bilder wiederum auswähle, was ich für wichtig halte. Sie fügen sich zu einem Bruchteil einer bestimmten Bildkultur einer bestimmten Zeit zusammen. Diese Stichproben repräsentieren zwar den Bilderfluss, ob sie jedoch repräsentativ sind, lässt sich nicht überprüfen. Jedenfalls sind sie es nicht im wissenschaftlichen Sinne. Ich arbeite mich trotzdem daran ab, eine Idee davon zu vermitteln, was uns bildlich umgibt. Am Ende erschaffe ich meine eigene Bildauslese, die ich dann wiederum mit anderen teile.

LA

Eine archäologische Arbeit …

VB

Ja, ich trage Schichten ab und dann werden diese Bilder wiederum auch zu Geschichte. Es gibt ja Bilder, die ganz konkreten Zeitbezug aufweisen. Die Me-too-Bilder kann man zum Beispiel einem bestimmten Jahr zuordnen. Wir wissen, wenn wir dieses Bild sehen: Das kann nicht vor 2017 entstanden sein. Und somit lässt sich das Bild mit einer Zeit verknüpfen. So funktioniert das mit vielen Bildern, von denen wir das zunächst gar nicht denken. Ein Bild zum Beispiel, mit dem ich meine Cluster begonnen habe, heißt Eclipse 99 und trägt bereits das Ereignis im Namen. Die Sonnenfinsternis 1999 als mega-mediales Ereignis, so erinnere ich das. Ich habe dieses Bild hochgeladen und geguckt, welche Bilder zurückkommen. Es gibt also Bilder, die außerhalb meiner persönlichen Geschichte auch eine global relevante Rolle spielen. Und dann gibt es aber Nebenschauplätze, Banalitäten – oder weitere interessante Phänomene. Zum Beispiel habe ich in Los Angeles eine Darstellerin auf der Straße fotografiert, die Marilyn Monroe imitierte. Für einige Dollar hat sie für ein Bild posiert. Ich fand spannend bei ihr, dass sie auf eine Figur referiert, die es längst nicht mehr gibt, die wir nur über Fotos und Filme kennen, die die Darstellerin aber wiederum perfekt übertragen konnte. Dieses Bild habe ich in die Bildsuche hochgeladen und bekam Bilder von Blondinen wie Madonna, die sich optisch auch mal auf Marilyn Monroe bezog, ebenso wie Gwen Stefani und so weiter. Da zeigte sich, wie sich ein bestimmtes Schönheitsideal durch Bilder über einen langen Zeitraum fortsetzt.

LA

Und dann wird mit einem nochmal größeren Zeitabstand interessant sein zu sehen, inwieweit diese Bilder aber einen jeweils spezifischen Moment einfangen oder für eine spezifische Zeit stehen. Man könnte mit dem Beispiel von Marilyn Monroe zwar sagen, dass sich ein bestimmtes Frauenbild oder Frauenideal über die Jahrzehnte hinweg fortsetzt – und dennoch entwickeln wir vielleicht mit zeitlichem Abstand ein Gespür dafür zu erkennen, dass alle diese Bilder in jeweils unterschiedlichen Zeiten angesiedelt sind und auf verschiedene Jahrzehnte referieren.

VB

Dem Algorithmus ist es im Grunde gleich, der gleicht das Ausgangsbild ab und schlägt mir eben Marilyn Monroe genauso vor wie Gwen Stefani, er kann auch zwischen Marilyn Monroe und der Imitationen der Marilyn Monroe nicht unterscheiden.

LA

Also sehen wir besser als der Rechner?

VB

In diesem Fall schon, zumindest einige von uns könnten den Unterschied zwischen Marilyn Monroe und Madonna besser erkennen als eine Bildsuchmaschine. Menschendarstellungen sind in meiner Arbeit aber eher selten. Ich arbeite viel mit Anschnitten und Details. Details sind für den Algorithmus schwieriger einzuordnen, da es keine konkrete Zuschreibung mehr gibt. Das Motiv lässt sich nicht mehr so einfach entschlüsseln, je abstrakter es wird: Handelt es sich um einen Baum oder um ein Haus? Deshalb schlägt der Algorithmus mir eben alle anderen Sachen vor, die sonst noch so in dem Farb- und Strukturspektrum eine Rolle spielen könnten. Da die Algorithmen über die letzten Jahre immer smarter wurden und nicht mehr so viele überraschende Bilder ausspuckten, wie das am Anfang der Fall war, musste ich meinen Suchprozess ändern. Am Anfang habe ich oft sehr bizarre Kombinationen erhalten. Das wurde mit der Zeit immer weniger. Zu dem Zeitpunkt habe ich beschlossen, die Arbeit in Networked Images umzubenennen und mit dem gefundenen Material auch anders umzugehen. Jetzt fügen sich die Bilder viel mehr zu einer Symbiose zusammen. Aus mehreren Bildern wird eine Einheit. Das liegt oft auch daran, dass ich einfach ein Detail herauslöse und dieses Detail sich in einem anderen Bild wiederfindet. Diese Verbindungen repräsentieren Links. In unserer Informationsgesellschaft ist alles irgendwie miteinander verlinkt. Eine Information führt zur nächsten und so weiter. Diese Links finden sich in den Networked Images oft als Überlappungen von Bildern wieder.

LA

Wie ist das mit Suchmaschinen? Die merken sich doch inzwischen die Suchen, es entsteht also ein Gedächtnis des Netzes.

VB

Das eine ist, dass sie immer smarter werden, das andere, dass du durch deine Suche ein Profil im Netz hinterlässt. Das versuche ich natürlich zu umgehen, indem ich die Verläufe lösche oder an jeweils anderen Rechnern suche. Ich versuche, möglichst alle Spuren zu verwischen, um nicht in eine Schleife zu kommen – aber ich entkomme dem nicht wirklich, denn es gibt eine permanente Wechselwirkung zwischen dem physischen Raum und dem Netz. Und diesen Wechselbezug formuliere ich in meinen vernetzten Bildern.

LA

Weg von den Logiken des Netzes: Wie navigierst du durch dein Bilderarchiv? Wie legst du deine Bilder ab, wie sind deine Daten organisiert? Und was gehört eigentlich alles zu deinem Archiv?

VB

So klar ist das bei mir gar nicht strukturiert oder archiviert. Die Negative zu archivieren, ist noch am einfachsten. Da kann man relativ einfach vorgehen, Ordner anschaffen und säurefreie Boxen kaufen. World of Details habe ich 2011 und 2012 fotografiert, analog. Die Google-Streetview-Referenzbilder, die ich herausgelöst habe, sind wiederum digitale Daten. Das heißt, diese Arbeit hat mehrere Archivinseln. Einmal auf dem Rechner, da sind verschiedene Ordner mit den Referenzbildern. Und dann kamen die Negative der Bilder hinzu, die ich an den Orten fotografiert habe. Später habe ich dann die Auswahl getroffen und Prints gemacht, von jedem Motiv drei. Diese Prints archiviere ich gerollt in Kästen. Und dann ist die ganze Recherchearbeit für mich auch Teil des Archivs. Bevor ich nach New York geflogen bin, musste ich mich gut organisieren und vorher schon meine Routen planen, damit ich möglichst viele Orte besuchen konnte. Da hatte ich zum Beispiel diesen U-Bahn-Plan von New York und habe da schon hinein gezeichnet, wie die Route aussehen könnte, um möglichst effizient arbeiten zu können. Neulich habe ich diesen Plan wiedergefunden und mich gefreut, ihn noch zu haben. Er ist für mich auch Teil des Recherchearchivs dieser Arbeit.

LA

Erzähle uns mehr von den Formen der Organisation.

VB

In meinem digitalen Archiv habe ich mehrere Auswahlordner. Erst mal einen, in den alles hineinkommt. Dann selektiere ich eine erste Auswahl. Zuletzt kommt der Premium-Ordner, wo dann die Auswahl der Auswahl für das Buch oder die Ausstellung drin ist und auch die Druckvorlagen und so weiter. Aber ich lösche selten, was ich auf dem Weg dahin angesammelt habe. Ich weiß nicht warum, denn wenn die Arbeit für mich abgeschlossen ist, gehe ich da nicht nochmal ran, um das alte Material aufzuwärmen. Zum Beispiel hier, diese Kiste mit den Google-Streetview-Bildern – die Screenshots musste ich ja zunächst aus dem Netz herauslösen und mir aneignen. Dafür habe ich folgende Form gefunden: Ich printe die eigentlich farbigen Bilder als schwarz-weiße Inkjet-Prints aus. Diese kleistere ich anschließend auf DIN-A4-große MDF-Platten. Dieser Prozess ist schon mal fern der fotochemischen Bildpraxis. Ich wusste natürlich nicht: Was hält dieses Bild aus? Wie lange wird es so aussehen, wie wird es sich verändern? Und die ersten Proben habe ich zum Beispiel auch hier, da habe ich auch mit verschiedenen Größen experimentiert. Das habe ich einfach nicht weggeschmissen und ich weiß ehrlich gesagt selber nicht, was ich mit dieser Ansammlung von Beispielen auf dem Weg zu der letztendlich fertigen Arbeit machen soll oder machen werde. Aber vielleicht ist das auch mal interessant für ein späteres Archiv, wenn es so etwas gäbe für bestimmte Arbeiten. Oder für so eine Ausstellung wie aktuell über Aby Warburg. Interessant an dieser Ausstellung sind unter anderem die Hintergrundinformationen, die in Vitrinen zu sehen sind. So etwas könnte ich mir vorstellen oder auch dazu, um es einmal Studierenden zu zeigen und den Weg zur fertigen Präsentation oder zum gedruckten Buch zu vermitteln. Das, was da noch auf dem Weg lag, was ich aussortiert habe und aus welchen Überlegungen heraus. Das könnten Gründe sein, warum ich es aufhebe. Es ist so etwas wie ein Making-of, das ich nicht löschen möchte. Ich war mal in New York bei Louise Bourgeois, sie hat immer diese Sonntag-Salons gemacht. Sie war auch umgeben von ihrem Zeug, sie hat da drin gelebt und gearbeitet. Nicht, dass ich so vollgestellt sein möchte, obwohl ich es ja hier schon bin. Ich versuche trotzdem, noch Raum zu haben. Ich muss mich auch immer mehr dazu überwinden, Dinge wegzuschmeißen. Aber es ist nicht immer einfach, das zu einem bestimmten Zeitpunkt zu entscheiden. Und deshalb ist es einfacher, die Dinge liegen zu lassen, wenn man den Raum dafür hat.

LA

Dein Atelier hier, dein Studio ist ja im Moment voll mit Teststreifen.

VB

Das sind mehrere Produktionen auf einmal. Das sind Teststreifen aus verschiedenen Phasen. Vom letzten Jahr im Vergleich zu diesem Jahr – vom gleichen Motiv, also von der gleichen Datei. Ich habe mit Erschrecken festgestellt, dass das Labor das Papier gewechselt hat. Oder anders: Der Papierhersteller hat das Papier erneuert und dadurch ergibt sich ein neues Farbspektrum. Ich arbeite jetzt mit dem neuen Papier auf die Farbigkeit des alten Teststreifen hin. Das alte Papier ist jetzt also auch Geschichte. Ich habe hier Kisten über Kisten mit Probestreifen, von denen ich dachte, dass ich sie als Referenz benötige. Aber die sind nicht mehr aussagekräftig, weil das neue Papier die Farben gar nicht mehr so darstellen kann. Das hat jetzt einfach andere Tonwerte. Vielleicht werden die meisten den Unterschied gar nicht sehen. Wenn man es nicht im Vergleich betrachtet, sieht man es sowieso nicht. Es sind ganz feine Nuancen.

LA

Deine Arbeit hat ja schon in viele Museen und in viele Sammlungen Eingang gefunden. Wie hat man sich so einen Transfer vom Studioraum in den musealen Raum vorzustellen? Welche Informationen gibst du dem Museum mit?

VB

Die Grundinformationen über das Verfahren, Größe und so weiter werden natürlich mitgeliefert, also alle technischen Details. Alles Weitere läuft jedes Mal anders ab. Es gibt Sammlungen, vor allem öffentliche Sammlungen, die eigene Konservator*innen im Haus haben. Diese rufen meistens an oder schreiben mir, weil sie alles ganz genau dokumentieren. Vor allem bei World of Details war das so, weil ich da diese besondere Methode gewählt habe, mit Malerkrepp in den Rahmen zu kleben. Das war ein No-Go für viele öffentliche Sammlungen. Sie wollten diesem Material nicht vertrauen. Und ich konnte natürlich keine Angaben zur Haltbarkeit machen, außer: Ich habe es benutzt und sehen wir mal, wie sich das in zehn Jahren verhält. Es gehört einfach zu diesem künstlerischen Prozess dazu und ist Teil der Arbeit, Neues auszuprobieren. Jedes Bild dieser Edition ist ein Unikat, weil ich das Band nicht exakt gleich abreißen und kleben kann, es sieht jedes Mal anders aus. Außerdem sieht man durch das Klebeband deutlich die Kanten des Prints. Damit verweise ich auf das Objekt Fotografie, auf den Print, auf das Papier. Das ist eine Art Offenlegung des Materials. Dafür brauchte ich auch unbedingt dieses Malerkrepp, um es sichtbar zu machen.

Erstaunlicherweise hält es immer noch. Ich habe hier einige Arbeiten aus der Serie, viele befinden sich aber irgendwo anders auf der Welt. Ich hatte natürlich auch Bedenken: Was passiert, wenn die Bilder runterrasseln? Zum Glück ist es nicht passiert. Ein Konservator hat mir vor vielen Jahren Mut gemacht, er meinte: Das ist eben unsere Arbeit. Wenn es sich lösen sollte, dann kleben wir es wieder ein, dafür sind wir da. Deshalb müssen wir wissen, welches Band du genommen hast. Ich vermittle das auch immer, dass ich das Malerkrepp der Marke XY genommen habe. Doch selbst dieses Klebeband gibt es nicht mehr, denn das wird auch alle paar Jahre erneuert. All das wird festgehalten und aufgeschrieben, deshalb kaufen sich die Sammlungen das Kreppband sogar, um es im Ernstfall einzusetzen. In der Kunst gibt es viele Beispiele für Künstler*innen, die mit Klebebändern arbeiten, Thomas Hirschhorn zum Beispiel. Auch diese Arbeiten könnten irgendwann physisch zusammenbrechen.

LA

Das ist so ähnlich im Netz, wenn der Link kaputt ist. Es passiert ja oft, dass man etwas wieder aufsuchen möchte, und dann gibt es die Verknüpfung, den Pfad, nicht mehr. Cut – die Sache ist einfach weg.

VB

Im Netz ist sowieso alles permanent in Bewegung. Alle diese Orte zum Beispiel, die ich für World of Details in meinen Ordnern abgelegt habe, wurden von Google Streetview im ersten Schwung fotografiert. New York war einer der ersten Orte, der durchfotografiert wurde. Und diese ersten Aufnahmen wurden wenig später schon wieder aktualisiert. Bei einem Motiv meines Referenzbildes wollte ich einen etwas anderen Winkel haben und stellte dann bei der Internetsuche mit Erstaunen fest, wie schnell so ein digitales Bildangebot Geschichte ist, weil es durch ein Update ersetzt wurde. Ich habe mir gedacht: In gewisser Weise leiste ich hier Archivarbeit, denn ich halte Bilder fest, die es längst nicht mehr gibt.

LA

Dabei sagt man doch immer, im Netz kursieren die Bilder für immer.

VB

Für die, die wir teilen, trifft das sicher auch zu. Aber bei den Bildern, die uns von Konzernen zur Verfügung gestellt werden, verhält es sich anders. Diese Internetriesen entscheiden letztlich, was und wie lange es zu sehen ist. Die Google-Streetview-Bilder waren am Anfang in nur geringer Auflösung verfügbar. Durch verbesserte Technik wurden die Bilder hochauflösender und ersetzten somit ihre Vorgänger. Zum anderen verändert sich die Stadt immer weiter, weshalb die Bilder auch ständig aktualisiert werden. Deshalb steht meine Arbeit, die ich in einem Buch zusammengefasst habe,3 auch sehr spezifisch für diese Zeit und für den Anfang dieser neuen Technologie.

LA

Ein Zeitschnitt.

VB

Ja, genau. Als ich gemerkt habe, wie schnell die Bilder durch Updates verschwinden, habe ich meine Arbeit präzisiert und mehrere Ansichten gespeichert für den Fall, dass die Bilder wieder gelöscht oder aktualisiert werden. Dabei habe ich nur Bilder herausgelöst, auf denen Menschen die Apparatur wahrnehmen und zurückschauen. Das ist inzwischen auch Geschichte, weil kaum jemand mehr beim Anblick der Kamera eines vorbeifahrenden Google-Autos irritiert ist und hinguckt. Die Technik ist mittlerweile etabliert und jede*r weiß darüber Bescheid. Mich interessierte dieses Erstaunen in der Haltung – die Gesichter wurden durch die Software zwar ausgeblendet oder verwischt, aber trotzdem erkennen wir ein Erstaunen in der Geste und das Zurückschauen. Das habe ich auch dokumentiert: Diese menschliche Verwunderung, im öffentlichen Raum mit etwas konfrontiert zu sein, das man nicht einordnen kann. Zugleich aber die Wahrnehmung, dass hier eine Aufzeichnung im öffentlichen Raum stattfindet. Damit ist natürlich auch ein Überwachungsgedanke verbunden. In dem Moment war mir aber nicht bewusst, dass sich dieses Erstaunen nur kurze Zeit später legen würde und wir uns alle daran gewöhnen würden.

Was sich auch verändert hat, ist der öffentliche Raum. Es gibt inzwischen nur wenige öffentliche Orte, die nicht kommerzialisiert sind, an denen man nicht abgebildet oder überwacht wird. Bewegung im öffentlichen Raum findet demzufolge nicht unbeobachtet statt, dieser Umstand ist Teil unseres Lebens. Es gibt eine weitere Arbeit, die ich im öffentlichen Raum fotografiert habe: 2004 war ich mit Unterstützung eines DAAD-Stipendiums in Tokio. In dieser Megacity hatten die Menschen bereits Mobiltelefone, das war noch drei Jahre vor Erfindung des iPhones. In Europa gehörte es noch nicht zum öffentlichen Bild, mit diesem Gerät telefonierend oder schreibend herumzulaufen. Ich habe also angefangen, Menschen mit Handys zu fotografieren, und zwar nur in Dreierkonstellationen. Die Arbeit heißt deshalb so: Three people on the phone. Diese Arbeit ist im Grunde Vorläufer meiner „vernetzten“ Bilder. Sie zeigt Menschen im physischen Raum, die mit anderen über das Gerät verbunden sind. Ich dokumentiere hier die Vernetzung anhand der Sichtbarkeit des Mediums, also den mobilen Geräten, die plötzlich das Stadtbild prägten. In meinen Networked Images dokumentiere ich diese Vernetzung mit Hilfe der Bilder selbst. Sie sind die Message sozusagen, die das Medium erst möglich macht. Ich sehe da eine spannende Verbindung zwischen den Arbeiten. Deshalb möchte ich sie in meiner nächsten Einzelausstellung zusammen präsentieren.4

LA

Du hast ein ausgeprägtes Bewusstsein für Momente der gesellschaftlichen Veränderung.

VB

Ich denke, Digitalisierung und globale Vernetzung betrifft uns alle mehr oder weniger. Mich hat die Idee des Datenaustauschs in Echtzeit schon immer fasziniert. Als ich mit meiner Mutter Ende der 1970er-Jahre nach Deutschland kam, war eine Telefonverbindung nach Moskau – unserer Heimatstadt – technisch nahezu unmöglich, es war jedes Mal Glückssache, durchgestellt zu werden. Also schickte man wirklich wichtige Nachrichten via Telegramm, das circa 24 Stunden zwischen Sender*in zur Empfänger*in benötigte. Es war sehr teuer und wurde nach Anzahl der Buchstaben abgerechnet. Überbracht wurden meistens schlechte Nachrichten, der Tod von Angehörigen beispielsweise.
Inzwischen ist viel passiert. Als in den 1990er-Jahren Kommunikation per E-Mail möglich wurde, versuchte ich, diesen Zustand des Immateriellen zu begreifen. Meine Überlegungen führten dann, wie gesagt, zu den Globen. Dieses Interesse am Medium Fotografie und seinen wechselnden Aggregatzuständen zieht sich bis heute durch meine Arbeiten. Was von den Arbeiten bei mir bleibt, wenn sie in Sammlungen aufgenommen werden, sind Daten, Negative, Skizzen und so weiter. Für das ganze Material habe ich diese zahlreichen Boxentürme auf Rädern, sozusagen ein bewegliches Archiv in meinem Studio. Sie enthalten alles, was ich benötige, um beispielsweise eine Arbeit im Schadensfall zu reproduzieren, also Negative oder Testprints, die als Vorlagen dienen. Zudem hebe ich auch Requisiten auf, die in meinen Bildern auftauchen, wie diese Madonnenfigur hier aus dem Endless Cluster.
Alle digitalen Files sind auf externen Festplatten gesichert, allerdings bin ich darin eher unorganisiert, ich könnte sicher viel Platz sparen, indem ich alte Daten lösche. Finale Files sind grün markiert, der Rest sammelt sich einfach an. Die Arbeiten sind nicht alphabetisch, sondern nach Jahren sortiert, das heißt, ich habe für jedes Jahr einen Ordner, in dem sich das gesamte Material aus der jeweiligen Zeit befindet.

LA

Du hast jetzt verschiedene Ablagesysteme vorgestellt. Gleichzeitig wäre es interessant zu erfahren, wie du deine Arbeit verschlagwortest. Es ist ja ein interessantes Paradox, dass du für deine künstlerische Arbeit mit Programmen arbeitest, wo du Bilder gegenseitig suchen lässt, wo also ganz explizit auf eine Verschlagwortung oder eine Beschreibung verzichtet wird. Heißen die Bilder einfach nur Cluster oder Networked Images, und dann geht’s von eins bis unendlich, so werden sie dann abgelegt?

VB

Die Arbeiten selbst haben Titel. Oftmals sind es einfache Beschreibungen von dem, was man sieht – wie Three people on the phone. Ich benenne meine Arbeiten möglichst sachlich. Und so ist das auch bei den Clusters oder Networked Images, da heißt es dann Lines and Clouds, da sich ein Teil auf die Koks-Line bezieht und der andere auf die Wolken. Oder Red Man and Red Wine. Das, was man sieht, findet sich meistens im Titel wieder.

LA

Wie hältst du spezifische installative Momente der Präsentationen fest? Hast du eine vollständige Dokumentation deiner Ausstellungen und davon, wie die Arbeiten gezeigt wurden, und kann man davon ausgehen, dass das die Art und Weise ist, wie die Arbeit dann auch präsentiert werden soll?

VB

Es gibt einige Arbeiten, die mit abgerissener Tapete oder anderen Hintergründen funktionieren. Tokyo Night zum Beispiel hängt auf einer schwarzen ‚Wolke‘. Diese wird zuvor mit schwarzer Acrylfarbe sehr expressiv direkt an die Wand gestrichen. Die Idee war, diese sehr dunkle Fotografie aus verschiedenen Distanzen jeweils anders wahrzunehmen. Dadurch kann man dem Bild auf unterschiedliche Weisen begegnen: zunächst als diffuse schwarze Wolke, die man nicht unmittelbar mit Fotografie verbindet. Je näher man jedoch herantritt, umso mehr macht sich das Foto darin sichtbar. Dieser Anstrich wird natürlich bei jeder Installation anders aussehen, vor allem dann, wenn ich nicht vor Ort bin und es jemand anderes macht. Bei den unterschiedlichen Displays geht es mir darum, das vorgegebene rechteckige Format des Papiers oder Rahmens zu verlassen. Oftmals passt es, manchmal aber eben nicht. Dann erfinde ich Formate, mit denen ich das Foto über die Bildgrenzen hinweg ausufern lassen kann. Mit dieser Vorgehensweise lasse ich in meiner Arbeit den Zufall zu, denn jeder Anstrich oder Abriss der Tapete (wie bei Marriage is a Lie) ist einmalig, obwohl die Fotografie ja ein reproduzierendes Medium ist. Wir erwarten von einem Bild, dass es viereckig ist und Ränder hat. Ich mag es, Unberechenbarkeiten einzubauen. Nicht als Effekt, sondern als Möglichkeit, mit Fotografie möglichst offen umzugehen und die Form erst nach dem Bild zu definieren.

LA

Inwieweit hast du die Debatte rund um die Errichtung eines Instituts für Fotografie verfolgt? Hast du eine Haltung dazu oder Wünsche?

VB

Ich habe die Debatte bisher nur am Rande verfolgt. Mir fällt bei der ganzen Diskussion zunächst auf, dass sie vor allem von Männern geführt wird. Ich höre in den Beiträgen zumindest überwiegend männliche Stimmen. Da fehlt mir die Diversität, aber nicht nur in Bezug auf Gender. Es kann nicht nur darum gehen, was, wie und wo archiviert wird, sondern es muss auch darum gehen, wer bestimmt und wer darüber entscheidet. Da wäre mein Anspruch: das Institut so zu gestalten, dass man die ganze Bandbreite des Mediums abbildet. Es wäre gut, mit dem Institut für Fotografie eine Chance zu erhalten, Entwicklungsgeschichten nachzuvollziehen – und zwar jenseits von Repräsentation in Ausstellungshäusern oder Erfolg auf dem Kunstmarkt. Diese beiden Faktoren muss man voneinander entkoppeln. Das wäre mein Wunsch. Um das umsetzen zu können, braucht man eine breitere Diskussion und Plattform, eine, die viele Stimmen zu Wort kommen lässt. Es muss darum gehen, in der Breite zu verhandeln. Und nicht nur unter einigen wenigen Initiatoren. So, wie die Debatte derzeit geführt wird, fühle ich mich nicht angesprochen, daran teilzunehmen, obwohl es natürlich wichtig wäre mitzudiskutieren.

LA

Wir stellen in unseren Gesprächen fest, dass speziell Künstler*innen, die konkret mit dem Medium umgehen, noch mal anders über die Fotografie reflektieren oder einfach im alltäglichen Umgang mit Fragen konfrontiert werden, die den technischen Gebrauch des Mediums betreffen. Sie machen aus ihrer Alltagspraxis spezifische Interessen geltend, von denen sie sich erhoffen, dass sie auch im Institut für Fotografie stärker verhandelt werden.

VB

Ja, es kann vielleicht nicht nur um den Erhalt der Archive von Künstler*innen gehen. Gut wäre sicher, wenn sich ein Institut auch mit der Mediengeschichte befasst und die unterschiedlichen Aspekte anhand konkreter Arbeiten, die es erhält und konserviert, bearbeiten oder zeigen kann.

LA

Gerade bei deiner Arbeit gibt es in Bezug auf den Digital Turn eine interessante Verschränkung: An ihr kann man Mediengeschichte ablesen und eine intellektuell-künstlerische Auseinandersetzung mit ihr.

VB

Ich bin sehr froh, dass bereits einige meiner Arbeiten in Museen und Sammlungen bestmöglich geschützt sind und dort gezeigt werden. Einige Arbeiten haben zuvor einfach sehr lange in feuchten Kellern darauf gewartet, gerettet zu werden. Ich bin froh, dass sie gerade noch zum richtigen Zeitpunkt angekauft wurden. Es ist auch eine Herausforderung, alle Arbeiten auf lange Sicht gesehen als Künstlerin zusammenzuhalten. Es ist einfach viel Volumen, das adäquat gelagert werden muss.

LA

Was hältst du von einem dezentralen Institut für Fotografie, dass bestehende Sammlungen stärker miteinander vernetzt?

VB

Ja, warum nicht? Dezentralität kann von Vorteil sein, um verschiedene Forschungsschwerpunkte und Archive miteinander zu verknüpfen. Eine Aneinanderreihung von künstlerischen Vor- und Nachlässen kann jedenfalls nicht die alleinige Funktion eines Instituts sein. Da erwarte ich mir mehr. Aber ich müsste mich da mehr einarbeiten: Ich merke, dass mich die Debatte jetzt stärker zu interessieren beginnt.

LA

Wir befinden uns im Moment in einer Situation, wo für dieses Medium wirklich viel passieren kann. Und in so einem Moment geht es vielleicht darum zu überlegen: Wie kann ich die Prozesse mitgestalten? Fühlt man sich imstande teilzunehmen, zu insistieren, seine Stimme einzubringen? Denn wenn es ein zentrales Institut geben wird, dann wird dieses Institut für die zukünftige Forschung die zentrale Anlaufstelle sein.

VB

Und da muss man die Frage stellen: Was ist relevant, was ist archivierungswürdig und wer entscheidet das? Ein Archiv sagt eventuell mehr über die Interessen der Initiator*innen aus als über den Forschungsgegenstand des Archivs. Deshalb ist es wichtig, diese Diskussion zum Sinn und Zweck des Archivs auf vielen Ebenen zu führen. Fotografie ist ein disziplinübergreifendes Phänomen, weshalb eine Verbindung unter anderem künstlerischer, theoretischer, bildwissenschaftlicher, konservatorischer Interessen für mich Sinn machen würde. Auch eure Arbeit sehe ich als einen wertvollen Beitrag zu diesem Diskurs. Ja, es sind schon wichtige Entscheidungen für die Zukunft, die noch getroffen werden müssen. Aber auch für die Gegenwart.

Footnotes

  • 1Viktoria Binschtok, Not Until Tomorrow, Galerie Klemm’s, 1.11.–15.12.2020.
  • 2Aby Warburg, Bilderatlas Mnemosyne, Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 4.9.–30.11.2020.
  • 3Viktoria Binschok, World of Details, Berlin 2013.
  • 4Kommende Einzelausstellung mit Bookrelease im Oldenburger Kunstverein, Februar 2022.