Gehört die Frankfurter Allee zu deinen Gebieten, die du so durchstreifst?
Die ganze Stadt ist mein Gebiet. Überall, wo ich bin.
Es hat sich sicherlich viel in dieser Straße verändert.
Sehr viel. Die ganzen Zeilen sind renoviert worden. Der Bersarinplatz ist jetzt viel offener geworden. Inzwischen beobachte ich viele jüngere Leute und Wohngemeinschaften. Manche Häuser, vor allem die Eingänge, sind ein bisschen verhunzt, dunkle Ecken.
Die innere Struktur des Hauses ist verwinkelt. Es suggeriert von außen, alles wäre sehr klar strukturiert.
Ja, es gibt auch verschiedene Ebenen.
Ich habe fast immer in modernistischer Architektur gewohnt. Sowohl in Europa, in England, als auch in Nigeria und hier jetzt auch. In Nigeria war ich drei, vier Jahre an der Uni. Die Uni ist in den 1950er-Jahren gebaut worden, ähnlich wie hier. Subtropisch zwar, aber ähnlich der modernistischen Idee.
Fühlst du dich dadurch immer gleich zu Hause?
Weniger zu Hause, eher verstehe ich die Ideen der Architekten.
Du bist gerade in diese Wohnung gezogen. Was bedeutet es, mit einem Archiv umzuziehen?
Das Archiv ist sehr wichtig, denn es ist die Vergangenheit in der Gegenwart. Das Umziehen ist oft schwierig, weil alles eingepackt und beschriftet werden muss, damit nichts verloren geht – und dann muss es wieder ausgepackt werden. In dieser Wohnung habe ich hoffentlich meine Endstation gefunden. Sie ist groß genug. Hier will ich jetzt richtig, wie man auf Berlinerisch sagt, malochen, richtig arbeiten. Ich habe sehr viele Buchprojekte. Ich will jetzt richtige Prints machen und dann zum Verleger gehen.
Und dazu möchtest du durch dein Archiv tauchen?
Das mache ich ständig. Ich arbeite daran, bekomme eine Idee, dann muss ich das Bild oder die Bilder suchen. Dafür habe ich lange Listen und manchmal verliere ich die Listen. Es kommt dann wieder, nach und nach. Und das Archiv wächst immer weiter.
Klar, du fotografierst ja die ganze Zeit. Gibt es eine bestimmte Ordnung bei den Negativen, den Kontaktbögen und Abzügen?
Die Abzüge sind im Archivschrank und auch in Kisten und Kartons, die meistens nach Thema beschriftet sind.
Fertigst du immer einen Arbeitsabzug an?
Ja, genau. Und für Veröffentlichungen dann ganz feine Abzüge. Jetzt wird auch sehr viel vom Negativ gescannt und dann ausgedruckt. In der Ausstellung letztes Jahr im Martin-Gropius-Bau waren es alles Inkjet-Prints.1
Das war für viele die erste Möglichkeit, deine Arbeit in diesem Umfang zu sehen. War Inkjet eine Technik, die du auch vorher schon benutzt hast?
Ja, bei der documenta2 und vorher auch schon. Ich beobachte, dass sie immer besser wird. Die Qualität wird wirklich sehr fein. Und hinter Glas – meine Bilder sind oft gerahmt – kann man den Unterschied zwischen analogen und digitalen Prints nicht sehen. Manche können das, aber es ist schon sehr schwer, weil die Inkjet-Prints oft mit Barytpapier hergestellt werden.
Aber du machst erstmal für dich einen Abzug?
Ja. Ich will sehen, wie die aussehen, die Tonalität und so weiter.
Und die archivierst du dann hier?
Ja, zum Teil. Auch meine Arbeitsprints sind in diesen Kisten und Fotokartons, nach Themen sortiert. Ich fotografiere zum Beispiel viel in Afrika, Lagos, Bamako, Dakar. Dann innerhalb der Themen nach Jahrgängen. Ein beliebtes Thema von mir sind Photo Booths. Gerade hier in Berlin gibt es viele.
Du bist ein Reisender. Lässt sich nachvollziehen, wann du in welchen Städten warst?
Ja, ich habe immer ein Notizbuch dabei und schreibe die Filmnummer, das Jahr und den Ort auf, wo ich fotografiert habe. Das ist mein analoges GPS.
Wenn du einen Film fotografiert und entwickelt hast, geht der mithilfe des Notizbuchs dann direkt in die Ordner, mit den Kontaktbögen? Und dann kommt der Abzug hinzu? Findet das Ordnen immer simultan statt?
Fast simultan. Leider nicht immer und das ist schlimm. Dann kann ich nichts mehr finden und frage ich mich, war das 1984 oder 1994? Und dann suche und suche ich … und das will ich nicht, deswegen mache ich es gleich. Aber trotzdem fallen manche Sachen raus. Ich vermisse vier Filme. Ich weiß nicht, wo die sind. Aber das ist okay. Ich mache manchmal Fehler, ich schreib etwas Falsches auf, solche Sachen. Ich bin nicht perfekt. Aber es macht mir Spaß.
Viele fragen, ob ich einen Assistenten gebrauchen könnte. Es gibt durchaus Arbeiten, für die ein Assistent gut wäre, aber ich mache lieber alles selbst, dann habe ich eine bessere Übersicht. Wenn jemand mitarbeitet, finde ich mich schwieriger zurecht.
Das klingt so, dass du dich sehr darauf verlässt, was du im Kopf hast.
Was ich im Kopf habe und auch, was ich notiert habe.
Wenn das Archiv jetzt jemand anderes übernähme, würde dann eine Verbindungslinie fehlen? Müsste man das Archiv dann anders organisieren?
Ich sehe Leute, die das gut machen können.
Aber vielleicht wäre es hilfreich, wenn du eine*r Assistent*in sagen könntest, bitte suche mir einmal alle Bilder raus, die ich in Lagos zwischen 1986 und 2006 gemacht habe. Alleine damit ist man wahrscheinlich schon lange beschäftigt.
Diese Arbeit mache ich am liebsten selbst. Indem ich die früheren Arbeiten wieder anschaue, sehe ich die Querverbindungen. Spontane Entscheidungen und spontane Begegnungen mit anderen Bildern mag ich sehr gerne. Wo ein Assistent mir sehr behilflich sein könnte, wäre … zum Beispiel arbeite und arbeite ich und abends habe ich nichts gegessen. Wer geht einkaufen? Aber ich will einen Assistenten ja nicht zum Einkaufen schicken, das mag ich nicht.
Also brauchst du eher eine Haushaltshilfe.
Ja. Aber ich will das nicht. Wir sollten alle auf gleicher Höhe stehen. Die sind auch schlecht bezahlt. Deswegen lehne ich das ab. Es gibt gute Assistenten, auf jeden Fall. Ich arbeite immer wieder mit Freunden – so auch hier, sie haben mir geholfen einzuziehen. Manchmal, wenn es um schwere Sachen geht, helfen sie mir. Auch jüngere Fotografen. Das ist toll.
In der Ausstellung im Gropius Bau gab es insgesamt sechs Kapitel: die sechs Songs, wie du sie bezeichnet hast. Da gab es einerseits Orte, zum Beispiel Lagos, Johannesburg oder Berlin. Und dann gab es Themen, zum Beispiel „Photography, Tobacco, Sweets, Condoms, and other Configurations“, bei denen Bilder aus vielen unterschiedlichen Orten zusammen kamen. „Sea Never Dry“ zeigt auch unterschiedliche Orte. Das ist dann wahrscheinlich genau das, was du beschreibst, wenn du selber durch die Negative gehst und die Bilder zusammenstellst.
Genau.
Hast du zum Beispiel auch eine Verschlagwortung?
Tags?
Ja, Keywords, zum Beispiel Architektur, Porträt und so weiter.
Ich mag das nicht. Diese Art kann behilflich sein, aber mich engt sie ein.
Wie hast du zum Beispiel das Kapitel „Sea Never Dry“ in der Ausstellung im Gropius Bau gemacht? Bist du immer wieder die Kontakte durchgegangen?
Ja, immer wieder. Es gibt schon bestimmte Begriffe, Keywords, Tags, aber ich versuche, das offen zu lassen. Zum Beispiel gibt es von „Sea Never Dry“ einige Bilder, die ich nicht ausgestellt habe. Mir ist diese Offenheit sehr wichtig. Von daher ich will mich nicht einschränken.
Aber das heißt, dass du dein Bildarchiv wirklich auch in deinem Kopf haben musst.
Das Archiv ist im Kopf, aber es ist auch mehr hier, im Herzen. Ich habe erst eine Ahnung, eine große Idee. Also fotografiere und fotografiere ich, zehn Jahre, 20 Jahre. Und dann fange ich an, daran zu arbeiten, zum Beispiel für eine Ausstellung. Mit „Sea Never Dry“ habe ich konkret 1984 angefangen. Dann schaue ich mir das in Ruhe an. Dann fahre ich wieder dorthin, das war in Nigeria. 1985, 86, 88 war ich in Dakar, und so kommt es langsam zusammen. Und dann hat man ein Konvolut von Bildern, 200, zum Teil schon auch als Arbeitsprints. Davon nehme ich nur vier, zum Beispiel für eine Ausstellung oder für ein Buch. Deshalb ist es auch für mich selbst so wichtig, alles offen zu lassen. Ich spreche gerne darüber mit anderen, aber ich arbeite eigentlich sehr gerne allein. Das kommt daher, dass ich ursprünglich Schriftsteller werden wollte. Und Schriftsteller arbeiten alleine. Nicht alle, aber viele. So bin ich auch.
Das heißt, du begreifst deine Bilder als eine Form von Text?
Ja, als Narrativ.
Aber du hast so eine Fülle an analogem Material. Nicht alle Arbeiten sind gescannt und du hast auch kein Datenblatt dazu. Der Computer könnte untereinander Schnittmengen erzeugen.
Ich habe einen gewissen Überblick. Wie wenn man in den Wald geht oder in den Dschungel: Wenn man den Dschungel gut versteht, ohne GPS, geht man einfach so durch. Viele sind überwältigt. Aber ich gehe ganz ruhig, das ist es.
Mithilfe von GPS verliert man möglicherweise die eigene, vielleicht ganz intuitive Orientierung.
Genau das, aber ich lehne es nicht ab. Früher habe ich es abgelehnt und hatte lange kein Handy. Davor wollte ich kein Faxgerät. Und davor noch keinen Anrufbeantworter. Ich habe das alles abgelehnt. Aber jetzt nehme ich das alles an, ich beschäftige mich auch mit Digitalaufnahmen. Allerdings habe ich keine digitalen Geräte außer dem Handy. Ich verlasse mich grundsätzlich auf meine intuitive Wahrnehmung.
Das heißt aber ganz konkret, Digitalisate oder ein digitales Archiv hast du nur von den Arbeiten, die für einen Anlass gescannt wurden?
Genau.
Und die hast du wahrscheinlich auf einem Datenträger?
Genau.
Du legst kein systematisches digitales Archiv an?
Gar nicht.
Das wäre zum Beispiel etwas, was eine Assistenz machen könnte. Das wäre eine Arbeit für sich. Die würde auch keine Ordnung durcheinanderbringen.
Magnum hat jetzt Schwierigkeiten wegen angeblicher Kinderpornografie. Die haben ein digitalisiertes Archiv. Und haben manche Bilder in den Rubriken, zwar nicht Kinderpornografie, aber Kindesmissbrauch, Kinderarbeit und so weiter. Manchmal sind die Kinder nackt, da muss man echt aufpassen. Das war nicht der Zweck der Fotografien damals und heute auch nicht, aber da kommt man ganz schnell in diese Kategorie.
Das heißt, du arbeitest rein analog in deiner künstlerischen Arbeit.
Meine Vorgehensweise der Intuition ist nicht genau, das weiß ich. Aber ich kann in das Archiv hineingehen. Manchmal suche ich ein bestimmtes Bild, von dem ich genau weiß, dass ich es aufgenommen habe, zum Beispiel in den 1980er-Jahren. Und dann kommt es auf einmal und ich weiß: 1984. Dann gehe ich hin und es ist da.
Das hat viel mit Geduld zu tun.
Die ist sehr wichtig. Die Ruhe ist für mich sehr wichtig. Sowohl draußen, wenn ich fotografiere, als auch anschließend. Und wenn ich manchmal etwas nicht finde, dann überlege ich. Manchmal spielt das Gedächtnis mit einem. Ich denke, ich habe etwas fotografiert, aber ich habe es gar nicht fotografiert. Solche Sachen sind komisch.
Vielleicht im Traum?
Im Traum, vielleicht. Aber manchmal stehe ich auch vor einer Situation und schaue durch den Sucher, aber ich löse nicht aus. Später denke ich mir, ich habe doch … nein, habe ich nicht.
Kommen denn manchmal Zeitschriften auf dich zu und wollen ganz bestimmte Sachen von dir? Legst du bei einer Veröffentlichung Wert darauf, dass du Freiheit hast, die Bilder auszuwählen?
Ja, früher schon. Aber in den letzten 20 Jahren nicht mehr. Es ist alles so viel schneller geworden, alles funktioniert nur noch digital. Ich bin eigentlich total weg von dieser Art Veröffentlichung. Ich unterrichte zum Geldverdienen und dann gibt es auch Ausstellungen und die künstlerische Laufbahn.
Dein Lebensmittelpunkt oder deine erste Adresse ist ja seit 30 Jahren in Berlin. Wenn es darum ginge, dass dein Archiv irgendwann einmal diesen Raum verlässt, siehst du es dann hier in Deutschland in einer Institution?
Letztlich muss ich ganz pragmatisch sein. Falls es nicht in eine Institution in Afrika geht, dann vielleicht hier. Aber es gibt Institutionen in Afrika, die diese Art von Sammlung oder auch diese Art von Büchern, die ich habe, wirklich brauchen.
Das heißt, du spürst da auch einen Bildungsauftrag.
Ich sehe das ganz deutlich. Durch das Internet hat es sich sehr stark verändert, viele können sich Bücher online anschauen. Und manche machen das auch. Aber die Vielfalt online finde ich oft zu überwältigend.
Du bist ja ein dem Analogen verschriebener Mensch, also magst du sicherlich auch die Haptik eines Fotobuchs. Obwohl wir uns natürlich ständig PDFs von Künstler*innen angucken und runterladen, ist es doch noch mal etwas anderes, eine Seite umzublättern, auf der es wieder ein neues Ereignis gibt. Es ist anders, als wenn man auf dem Screen nach unten scrolled. Das Umschlagen einer Buchseite kann ein toller Moment sein. Gerade bei Fotobüchern.
Finde ich auch. Auf der anderen Seite beobachte ich an mir, dass ich mehr online anschaue als in Fotobüchern. Aber nach wie vor ich mag lieber Fotobücher und ihre Haptik, das auf jeden Fall.
Wie viele Fotografien gibt es inzwischen eigentlich? Wie viele Fotografien hast du gemacht, die in dieses Archiv Eingang gefunden haben?
Es sind ungefähr 400 bis 500 Filme pro Jahr. Und dann kann man das hochrechnen. Ja, es sind schon viele.
Und jedes Bild und jeder Film geht in dein Archiv ein. Das heißt, alles ist privat oder alles ist öffentlich, alles kann relevant werden.
Ja. Es ist interessant, dass es Monate gibt, in denen ich fotografiere, und wenige Bilder hauen hin, und dann gibt es sehr starke Wochen. Und nach fünf Jahren oder zehn Jahren ist manchmal etwas an den Bildern dran, die ich erst nicht so gut fand.
Ich war zum Beispiel vor 30 Jahren beim Mauerfall hier und habe immer wieder fotografiert. Die Bilder waren mir damals zu nah dran, ich war damals nicht so feinfühlig. Aber einige sind nicht schlecht. Mit der Zeit sieht man die eigenen Bilder besser.
Das ist sowieso etwas, was die Fotografie begleitet. Bilder funktionieren als Zeitdokumente und oftmals begreift man die Zeit gar nicht genau, in der man lebt. Erst in der Rückschau auf das fotografische Material wird sie bedeutsam.
Aber auch, weil die Bilder an sich weiter wachsen. Es gibt ja verschiedene Ideen und Konzepte zu der Frage von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Manche Völker behaupten, es gibt keine Vergangenheit, es gibt nur das Jetzt. Ein Foto ist ein Fragment, aber es lebt weiter. Das ist oft sehr interessant. Mir fällt schon lange auf, dass viele die Fotografien nicht richtig anschauen, nicht richtig lesen können. Es gibt so viel Information darin, wahnsinnig viel, und das ist so faszinierend für mich. Zum Beispiel die Bilder beim Zahnarzt vom Kiefer, man kann auch diese Art Bilder ganz stark lesen. Auch wenn man kein Zahnarzt ist.
Wie kommst du jetzt gerade auf dieses Beispiel?
Ich glaube, weil in Martin Parrs Buch über Fotobücher solche Sachen auftauchen. Die haben jetzt Sammlungswert.
Sind das Röntgenaufnahmen, X-ray-Bilder?
Aufnahmen von den Zähnen, vom Gebiss, ja. Alles hängt zusammen, alles! Und diese Zusammenhänge sind oft ideologisch – was sehen wir, was sehen wir nicht – und das ist so faszinierend. Alles hat eine Bedeutung, jede Sache, jede Kleinigkeit. Oft wollen wir das aber nicht und tun es weg, gerade Fotos. Hier in der Frankfurter Allee ist ein Antiquariat, die haben Stapel von Fotos. Ich wollte mal hingehen, aber ich habe es noch nicht geschafft. Belangloses, Postkarten, alles Mögliche, Familienalben und so weiter.
Wenn alles interessant und bedeutungsvoll ist, dann könnte man ein Buch, ein richtig dickes Buch deiner Arbeit mit allen Kontaktbögen als Faksimile reproduzieren, einfach alles, jedes Foto, das in dein Archiv eingegangen ist.
Haben manche das nicht gemacht, nicht unbedingt mit Fotografie, aber mit Texten?
Ja, von Einar Schleef, der ja auch Schriftsteller und Dramaturg war, gibt es diese Bücher, die nur aus Kontaktbögen bestehen.
Das Editieren und das Auswählen ist wichtig. Das wäre eher meine Richtung.
Das ist ja im Grunde genauso wichtig wie das Fotografieren selbst. Während des Fotografierens findet ja auch bereits eine Auswahl statt.
Es gibt Künstler, die alles zeigen. Ulysses von James Joyce ist sehr dicht. Ich war einmal auf der Berlinale, beim Forum, ein japanischer Dokumentarfilmer hat dort seine Arbeit gezeigt. Er hat seine Kamera auf einen Berggipfel gestellt und dann lief sie einfach nur, ohne Menschen. Der Film war 6, 7, 8 Stunden lang. Ich werde es nie vergessen. Das Kino war gerammelt voll, ich habe einen von den letzten Plätzen ganz hinten bekommen. Und dann ging’s los, Berlinale, der Filmemacher war da und wurde vorgestellt, nach dem Film werden wir ein Gespräch haben, Film ab: Er hat nichts geschnitten, die Kamera lief, lief, lief. Stundenlang Wolken, klarer Himmel, Wind. Nach einer Stunde sind mehr als die Hälfte der Leute gegangen. Nach zwei Stunden waren wir nur noch zu dritt. Am Schluss waren wir zu zweit. Es war so traurig. Es war nicht editiert, nichts.
Wenn man sowas macht, kalkuliert man eigentlich mit ein, dass da dann keiner mehr sitzt.
Der sah sehr traurig aus. Es ist schon länger her, aber ich habe dann darüber nachgedacht, ob man das machen kann. Es gibt andere, die das auch machen, gerade mit Video Art. Bei der documenta 11 von Okwui Enwezor, 2002, hat ein englischer Fotograf vier riesige Bildschirme in einem großen Raum gestellt, die liefen stundenlang.3 Es war gut, ich habe vielleicht eine halbe Stunde, eine Stunde angeschaut.
Wenn man so eine Arbeit macht und noch dazu auf so einer Ausstellung präsentiert, rechnet man natürlich damit, dass Leute kommen und …
… gehen, ja, das war das Problem bei dem Film vom Berggipfel von dem Japaner. Deswegen, ich finde Editieren ist schon wichtig.
Das mit dem dicken Buch ohne jede Auswahl war auch kein ernsthafter Vorschlag.
Ich habe das schon verstanden – also die Überlegung, das Archiv als Nachlass zu editieren. Alles andere wird verbrannt oder kaputt gemacht. Das mache ich wahrscheinlich nicht.
Wenn man sich jetzt überlegt, dass dein Werk, dein Archiv, dein Vorlass, dein Nachlass hoffentlich aufgehoben wird, würdest du dann eine Anweisung geben, wie damit umzugehen wäre? Es würde dann sicherlich digitalisiert und darüber hättest du dann keine Entscheidungshoheit mehr. Kann dann nur mit den Bildern weitergearbeitet werden, die es schon als Positive gibt? Gibt es festgelegte Formate?
Ich habe noch nicht so klar darüber nachgedacht, aber ich beobachte, was andere machen.
Deine Ausstellung im Gropius Bau war ja, erstaunlicherweise, die umfangreichste Ausstellung, die du bisher hattest, oder?
Ja.
Und dennoch, verglichen damit, was im Archiv schlummert, auch nur ein kleiner Ausschnitt.
Ja. Ich habe noch keine klare Vorstellung. David Goldblatts Archiv ist in die USA gegangen. Er wollte es eigentlich in Kapstadt hinterlassen, aber es gab Unruhen.
Noch zu seinen Lebzeiten?
Ja, noch zu seinen Lebzeiten. Ich hoffe, dass ich für mich eine gute Institution finden kann und dann muss ich auch darüber nachdenken, was damit passiert, in welchem Umfang und so weiter. Ich muss gucken, wie das dann geht. Wichtig sind auch die Zuschauer, das Publikum, für mich hauptsächlich in Afrika. Es gibt eine wahnsinnige Schwemme von jungen Künstlern jetzt in Afrika, unglaublich stark.
Eine praktische Frage: Wenn du eine Ausstellung machst und die Bilder präsentierst, wie legst du die Größen da fest?
60 × 60 cm und kleiner und einige größer. Das ergibt sich je nach Empfindung mit dem Raum.
Es kann es das gleiche Bild in verschiedenen Größen geben?
Ja, das gibt es auch. Wenn ich die jetzt verkaufen würde, dann wären sie limitiert und in einer bestimmten Größe. Das mache ich schon. Aber für die Ausstellung unterschiedlich – so, wie es sich im Raum ergibt.
Diese Arbeiten bleiben dann auch bei dir?
Ja, es sei denn, jemand will sie kaufen. Die Größe gebe ich vor. Manche wollen die kleiner haben, aber ich sage dann schon: Das ist die Größe. Deswegen muss ich für den Nachlass solche Sachen ganz genau überlegen.
Du nennst Sudan oder Nigeria als mögliche Orte für dein Archiv.
Nur für die Bücher!
Deine Fotobuchsammlung würdest du also gerne in den Sudan oder nach Nigeria geben, aber deine eigenen Arbeiten, deine Negative und so weiter?
Ich muss noch überlegen, wohin. Es ist nicht so einfach, viele haben überhaupt keine Kapazitäten.
Ist das eine Frage die dich beschäftigt, in welchem kulturellen Kontext du das dann verortest und hingibst?
Nicht im Vordergrund, aber ein bisschen schon. Deswegen auch das Beispiel mit David Goldblatt, er hätte es gerne nach Südafrika gegeben, aber durch die Unruhen hat er es in die USA geschickt. USA finde ich einen guten Ort, dort gibt es engagierte Museen. Aber dann ist es auch problematisch, wenn die politische Situation ganz anders wird – und auf einmal ist das Archiv in einem Land, das im Gegensatz ist zu dem steht, wo ich herkomme.
David Goldblatt hat ja auch in seinem Land unglaublich viel für die Fotografie getan.
Unglaublich, ja!
Auch du hast dich in Lagos sehr stark für die Fotografie engagiert.
Nicht nur in Lagos, ich war auch in Südafrika, Sudan, Senegal, Bamako. Die nächste Generation ist schon da, die klopfen an und wir sind da, um ihnen zu helfen. Es gab wenige Institutionen, aber jetzt werden es immer mehr, und Market Photo Workshop ist eine hervorragende.
Hast du die Debatten rund um das deutsche Fotoinstitut ein bisschen mitverfolgt?
Ja, ich habe es schon mitverfolgt. Ich bin gespannt, wo es dann gebaut wird.
Findest du es wichtig, dass es ein speziell für die Fotografie eingerichtetes Forschungsinstitut gibt, eines, das Vor- und Nachlässe aufnimmt? Wäre es auch dir ein Anliegen?
Mir wäre es lieb, wenn mein Archiv zu einer Institution ginge. Eine Institution, die die Kapazität hat und es richtig aufnehmen kann. Für Deutschland ist es wichtig. Deutschland ist für die ganze Geschichte der Fotografie wichtig. Manchmal muss ich schmunzeln, weil so viel Geld hier in diesem Land ist – und andere Länder haben gar nichts und versuchen, ein bisschen was zu machen.
Du findest, Deutschland hätte sich auch schon in der Vergangenheit stärker für die Fotografie engagieren können?
Ja, finde ich, die haben das teilweise zu spät kapiert, dass Fotografie ein sehr wichtiger Teil unseres künstlerischen Daseins ist.
Und hast du eine Ahnung, woran das liegen könnte?
Der Zweite Weltkrieg hat sehr viel kaputt gemacht. Und danach hat die USA übernommen, also die Institutionalisierung an den Museen. Und auch die Industrie in der Herstellung von Kameras, das ging nach Asien, Japan, und so rasend schnell. Vorher war Europa, Deutschland, führend in der Herstellung. Jetzt gibt es nur noch Leica, oder? Als ich nach Deutschland kam und anfing, gab es überall Kamerageschäfte, heute gibt es kaum noch solche Läden.
Ja klar, der Amateurbereich ist …
… im Handy heute. Aber so schnell. Ich kann mich gut erinnern, wie ich damals in München war und die Treppe von der U-Bahn hochkam, da hat jemand fotografiert und seine Optik hat sich von alleine bewegt, Autofokus – und da staunte ich, aber das war dann ganz normal. Solche Momente faszinieren mich. Auch, als ich das erste Mal jemanden mit Walkman gesehen habe. Oder, schon etwas her, da läuft jemand und spricht, laut – mit wem?
Die institutionelle Unterstützung der Fotografie war ja auch immer Thema in den Gesprächen zu dem geplanten Institut, denn es gibt ja durchaus auch viele kleine oder regionale Museen, die Nachlässe von Fotograf*innen betreuen. Braucht es diese Dachorganisation, dieses eine große und prestigehafte Gebäude? Oder ist es vielleicht interessanter für Fotograf*innen, in einem Museum aufgehoben zu sein, das auch inhaltlich eine Logik für ihr Werk hat?
In einem Land wie Deutschland ist genug Geld da, um sowohl das eine als auch das andere zu machen. Es gibt oft Fotografen, die intensiv fotografieren, deren Arbeit aber nie ausgestellt oder veröffentlicht wurde. Und deren Nachlass kommt dann nicht in diese nationale Institution, aber vielleicht in die regionale. Denn vieles geht verloren. Ab und zu, wenn dann Fotoalben auf dem Trödelmarkt landen, sind gute Sachen dabei, auch die Negative. Bekanntestes Beispiel in den USA: Vivian Meyer.
Das ist eine schwierige Frage, aber auch ein wichtiger Punkt: Wer wählt überhaupt für ein nationales Institut aus und werden solche Arbeiten dann berücksichtigt? Gibt es eine Neugierde und einen Recherche-Ehrgeiz, Konvolute zu finden, die noch nicht eine große Öffentlichkeit erfahren haben?
Das Nicht-Gesehene gehört auch zur Landesgeschichte. Immer wieder werden neue Künstler und Fotografen entdeckt, die wirklich eine wichtige Arbeit geschaffen haben. Und dann wird der Nachlass oft weggeschmissen und zerstört. Wenn er entdeckt wird, ist es gut, aber die Institutionen müssen dann auch da sein, um diese Sachen aufzunehmen.