Annette Kelm
Es gibt ein Bildarchiv in meiner Erinnerung, Szenen, Momente von Licht und Schatten, Kombinationen von Objekten, Orten und Stimmungen, auf das ich zurückgreife, wenn ich Bilder mache.

LA

Wie würdest du dich beschreiben? Als ordentlich, unordentlich, chaotisch? Und warst du so oder so eigentlich immer oder hat sich das im Laufe der Jahre verändert?

AK

Da muss ich überlegen. Erstmal finde ich toll, dass ihr euer Projekt „Das Archiv als helle Kammer“/„Lighting the Archive“ nennt, weil ich es wichtig finde, dass man Gedanken teilt und Haltungen offenlegt. Für mich war es immer wichtig, Wissen zu teilen und mich mit anderen zusammenzuschließen. In meiner Zeit in Hamburg hatte ich zusammen mit Freund*innen verschiedene Labore. Oft lohnt es sich ja nicht – als Beispiel – ein analoges Labor alleine zu nutzen. Wir haben uns zu dritt zusammengetan, einen Raum gemietet, Geräte gekauft. Das habe ich schon während meines Studiums so gehandhabt, weil es in der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg kein funktionierendes Farblabor gab. Es gab Farbentwicklung in Schalen, mit denen man zu keinem befriedigenden Ergebnis kam. Bei der Dunkelkammerarbeit mit Farbchemie ist es wichtig, dass die Temperatur konstant ist, deshalb werden Maschinen für die Entwicklung verwendet. Da mir schon als Studentin klar war, dass ich keine Kompromisse in der Qualität eingehen würde, habe ich kurzerhand mit Freund*innen einen Raum gemietet, eine Maschine und Vergrößerungsgeräte gekauft und ein Labor eingerichtet. Ich habe immer versucht, den Mangel an etwas in etwas Positives zu drehen.

LA

Du hast keine fotografische Ausbildung im technischen Sinne?

AK

Nein, davon kann man nicht sprechen – wie viele andere Künstler*innen wahrscheinlich auch nicht, die mit Fotografie arbeiten. Das Wissen um die Technik habe ich mir von allen Seiten erfragt. Ich habe Hans Hansen, dessen Kurs ich inoffiziell besucht hatte, als er ein Jahr lang an der Fachhochschule in Hamburg unterrichtete, gelöchert, wie man eine Großbildkamera bedient und am besten das Licht setzt. Und ich habe Freund*innen assistiert, die kommerziell gearbeitet haben. Neugier war und ist meine stärkste Antriebskraft. Sich durchfragen, sich gegenseitig helfen, Sachen ausleihen und so weiter, das war die Praxis. Es war ein Vorteil, dass ich mir vieles während des Studiums selbst organisieren musste und dadurch schon früh meine eigene funktionierende Infrastruktur hatte. Es ist ja sehr spezifisch und individuell, was man als Künstler*in braucht. Denn es geht nicht darum, vorgefertigte Wege zu gehen, sondern auch mal das Licht „falsch“ zu setzen, um dann daraus etwas Neues zu entwickeln. Da kann es von Vorteil sein, sich selbst den Weg zur Technik zu bahnen. Ich bilde mich technisch auch jetzt immer weiter und überdenke ständig meine Arbeitsweise. Fotografie ist ein sich schnell veränderndes Medium. Die Fotoindustrie orientiert sich am Amateurmarkt, der natürlich viel größer ist. Als alle anfingen, privat digital zu fotografieren, wurden nach und nach Filme und Fotopapiere eingestellt. Die Fotografie, wie wir sie als Künstler*innen betreiben, ist für den Markt unwesentlich.
An der Kunsthochschule habe ich noch lange Skulpturen gemacht, gemalt und alles Mögliche andere auch, aber meist waren die Vorlagen eigene Fotografien. Irgendwann habe ich dann einfach nur noch die Fotografien verwendet. Ich erinnere mich allerdings immer wieder an den Moment, in dem ich meine Liebe zur Fotografie entdeckt habe. Ich war ungefähr acht Jahre alt und nahm an einem Sommerkurs auf einem Kinderbauernhof teil. Das Schwarz-Weiß-Labor war in einem Ziegenstall. Dieser magische Moment, in dem das Bild langsam in der Dunkelkammer auf dem Papier erscheint, hat mich total hingerissen. Das war eine Art Schlüsselerlebnis. Und der Fotoapparat, der auf angenehme Weise zwischen der Welt und mir steht, ist zu meinem Werkzeug geworden. Es gibt ein Bildarchiv in meiner Erinnerung, Szenen, Momente von Licht und Schatten, Kombinationen von Objekten, Orten und Stimmungen, auf das ich zurückgreife, wenn ich Bilder mache.

LA

Wer waren denn die Freund*innen, von denen du gelernt hast?

AK

Das Labor hatte ich damals mit Achim Hatzius und Angela Franke, sie waren an der Angewandten Fachhochschule mit dem Studium bereits fertig (heute THW). Dann Anna Voswinckel, Hendrik Schwantes, Sonja Cvitkovic, die dort Design studierten. Zu Hans Hansen hat sich mit der Zeit eine Freundschaft entwickelt, wir treffen uns auch heute noch regelmäßig. Später habe ich Michael Schmidt über meine Ausstellung in den Kunst-Werken kennengelernt. 1 Susanne Pfeffer hatte uns vorgestellt, weil sie wusste, dass wir die Arbeit des Anderen schätzten und uns nicht kannten. Wir haben uns in Kreuzberg gegenseitig im Atelier besucht und über Fotografie gesprochen. Es schmerzt, dass er nicht mehr da ist. Kürzlich bin ich in das Kuratorium der Stiftung für Fotografie und Medienkunst Michael Schmidt gewählt worden und bin schon gespannt auf den Einblick, den ich dadurch bekomme. Es hilft mir auch, eine Haltung zu meinem eigenen Archiv zu entwickeln. An Michael habe ich immer seine Kompromisslosigkeit bewundert.

LA

In die Zukunft gedacht: Empfindest du das Stiftungsmodell als erstrebenswert für den Erhalt deiner künstlerischen Arbeit? Beziehungsweise welche Chancen siehst du durch die Errichtung eines Instituts für Fotografie, das künstlerische Vor- und Nachlässe aufnehmen soll?

AK

Mich interessiert bei all den Fragen um die Gründung eines Bundesinstituts vor allem die Tatsache, dass hier Geschichtsschreibung stattfindet und der Kanon weiter definiert werden wird. Geschichtsschreibung, wie zum Glück in den letzten Jahrzehnten hinreichend thematisiert wurde, ist nie neutral, sondern wird immer von jemandem gemacht oder beeinflusst. Es wird entscheidend sein, wer der*die Direktor*in sein wird und wer die Kurator*innen, die dieses Institut aufbauen, wer die Gatekeeper sein werden. Es muss gewährleistet werden, dass das Institut die Bandbreite der Fotografie in Deutschland abbildet, aber es müssen auch Kriterien festgelegt werden, um die Qualität eines solchen Instituts zu sichern. Das wird eine große Herausforderung sein. Fotografie ist ein relativ junges Medium, welches aber auch gesellschaftlich eine immer größere Rolle spielt. Alle Fotograf*innen arbeiten unterschiedlich mit dem Medium, sind aber fast alle abhängig von den gleichen Parametern: Filmmaterial, Chemie, Speicher, Daten et cetera. Es ist sinnvoll, einen Ort zu haben, an dem spezifische Forschung betrieben werden kann und das Material bestmöglich gelagert werden kann, um es zu erhalten. Ob ich selbst meinen Nachlass dort hingeben würde, hängt davon ab, wie das Institut inhaltlich ausgerichtet ist und ob ich gewährleistet sehe, dass meine künstlerische Arbeit dort in meinem Sinne bewahrt und zugänglich gemacht wird. Fotografie ist stark von der Materialforschung abhängig, daher würde es absolut Sinn machen, Fotografie an einem Ort zu bewahren, der speziell darauf ausgelegt ist, auch wenn ich meine Arbeit sonst vor allem im Zusammenhang mit allen anderen Medien der Kunst sehe.

LA

Was wäre für dich eine idealtypische Konstruktion eines Instituts für Fotografie, eine, wo du mit gutem Gefühl sagen könntest, dass es ein guter Ort für die Fotografie und den Erhalt von künstlerischen Werken ist?

AK

Die inhaltliche Ausrichtung muss stimmen und der wissenschaftliche Anspruch sollte gewährleistet sein. Ein positiver Effekt, den es jetzt schon durch die Diskussionen um das Institut gibt, ist, dass ich gerade mit vielen Kolleg*innen im Austausch bin. Es scheint ein sehr guter Moment zu sein, ein solches Institut zu gründen. Es gibt eine Offenheit und ein Interesse von allen möglichen Seiten. Ich fände es wichtig, dass wir als Künstler*innen bei der Planung eines solchen Instituts einbezogen werden, denn wir haben das fachübergreifende Wissen über das Medium: die Geschichte, die Technik, die Materialien und vor allen Dingen den täglichen, praktischen Umgang mit ihm.

LA

Zurück zu deiner Position: Wie ist das mit dem Archivieren: Hast du dir das – der Technik vergleichbar – auch selbst beigebracht? Ist es einfach, eine Struktur zu finden?

AK

Das war vergleichsweise einfach. Ich habe mir irgendwann Ordner gekauft und immer die Negative zusammen mit den Kontaktbögen chronologisch eingeordnet. Das hat sich einfach und logisch ergeben. Ich habe mir da jetzt nicht groß etwas ausgedacht und nach Themen oder so geordnet, sondern einfach fotografiert, Kontakt gemacht, abgeheftet. Später habe ich dann natürlich wegen der Chemie, die aus den Kontaktbögen ausdünstet, die Negative von den Kontaktbögen getrennt und nummeriert. Im Prinzip mache ich das mit den digitalen RAW-Dateien, den digitalen Negativen, genauso. Da datiere ich die Aufnahme-Ordner, erstelle mehrere Sicherungskopien an mehreren Orten. Die Galerie hat dann angefangen, Archivnummern für die Bilder zu vergeben, die ich als Arbeit deklariert habe, pro Motiv eine, chronologisch organisiert. Neues Bild, neue Archivnummer. Oft schicke ich die Nummer gleich selbst.

LA

Aber im Archiv sind ja auch die ganzen RAWs, die von der Galerie keine Nummer bekommen haben. Was machst du denn mit denen? Also mit den Bildern, für die du dich nicht entschieden hast. Kann es sein, dass du dich später einmal dafür entscheidest?

AK

Ja, die gucke ich immer mal wieder durch. Zum Beispiel hat mich kürzlich Texte zur Kunst gebeten, eine Edition zu machen, bereits zum dritten Mal. Ich hatte noch in Erinnerung, dass es da Bilder gab, die ich ganz gerne mochte und noch nicht verwendet hatte. Da habe ich mal wieder alles durchgeguckt. Aber ich verwende recht selten nochmal frühere Bilder. Es kommt mir rückwärtsgewandt vor, die alten Ordner aufzuarbeiten und zu gucken, was sich da noch finden lässt. Ich habe immer so viele Ideen, die ich jetzt umsetzen möchte!

LA

Also bist du eher ordentlich, beziehungsweise musst du das auch sein.

AK

Ja, würde ich schon sagen. Es kommt aber immer auf den Vergleich an. Es gibt Leute, die ordentlicher sind, und Leute, die unordentlicher sind. Ich möchte zum Beispiel gerne einen Kühlraum für die Negative und einige meiner Prints haben. Da habe ich viele Kolleg*innen gefragt, ob wir nicht zusammen einen Raum mieten wollen und uns das anschaffen. Aber ich hatte das Gefühl, dass momentan niemand mein Anliegen teilt. Oder dass die, die es teilen, sich lieber alleine einen Raum einrichten möchten.

LA

Jede Künstlerin hat ja eine Prioritätenliste von Dingen – und ein Kühlraum ist im Moment für einige, auch geteilt, weit weg.

AK

Ich denke, so ein Raum ließe sich, wenn man zu Mehreren ist, recht einfach organisieren. Aber das muss ich jetzt wohl für mich alleine machen. Ich möchte natürlich, dass die Negative erhalten bleiben, denn sie altern. Im Moment lagern sie bei Zimmertemperatur. Und das tut mir dann schon weh, wenn ich merke: Es ist so ein heißer Sommer und jetzt liegen sie schon wieder so warm, obwohl es hier noch vergleichsweise kühl ist. Aber kühl ist eben auch relativ. Ich hätte die Negative gerne unbedingt so kühl wie möglich, um sie bestmöglich zu erhalten. Und ich möchte das natürlich auch so gut wie möglich machen. Das ist immer der Anspruch.

LA

Sind die Negative hier im Atelier?

AK

Genau, die stehen alle da hinten in den Ordnern. Ich habe gerade ein bisschen umgeräumt. Für meine Bibliothek überlege ich, wie ich die vielen Bücher ordnen soll, denn ich musste das Regal ausräumen, weil die Wand gestrichen wurde. Ich hatte die Bücher nach dem ABC geordnet und jetzt merke ich, dass es für mich vielleicht besser funktioniert, sie nach Themen zu ordnen. Also überlege ich, ob mir Querverweise, die durch eine neue Ordnung entstehen, Spaß machen könnten. Die Negativordner bringe ich demnächst in mein Lager, das hat ca.18 Grad. Es ist zwar schade, dass sie dann nicht mehr hier im Atelier sind, denn sie sind ein Teil meiner Geschichte, den ich gerne in der Nähe habe, um – zumindest theoretisch – die Möglichkeit zu haben, sie jederzeit durchschauen zu können. Obwohl ich das sehr selten mache. Aber es scheint mir vernünftiger, sie ins Lager zu bringen als sie nochmal einen Sommer lang hier liegen zu lassen.

LA

Das heißt, es ist dir wichtig, dass das Material geschützt ist und dass da Ordner sind oder eine Festplatte, mit denen das Material zugänglich ist, wenn du mal tot umfällst.

AK

Im Moment denke ich eher an das tägliche Arbeiten. Ich möchte die Sachen einfach leicht finden. Gerade bei der Fotografie muss man eine Ordnung halten. So weiß ich: Okay, ich habe jetzt schon Edition 1, 2, 3 herausgegeben. Oder die 1 ist in einer Ausstellung und die andere ist bei der Galerie in New York in Kommission. Man muss ja gewährleisten, dass nicht zweimal die gleiche Editionsnummer rausgeht. Das alles kostet viel Zeit, besonders, wenn man keine Ordnung hält. Bei mir ist es eine riesige Excel-Tabelle und da tragen meine Assistentin oder ich alles ein. Wir schreiben einen Lieferschein, wenn irgendetwas rausgeht, oder tragen Kommissionsverträge, Verkäufe und viele andere Informationen ein. Das funktioniert gut.

LA

Ist diese Excel-Tabelle von dir definiert?

AK

Ja, ich finde die Excel-Tabelle ganz gut, so, wie sie ist, weil ich dann auf einen Blick sehe, in welchen Sammlungen sich die Arbeiten befinden, ob es noch weitere verfügbare Editionen für Ausstellungen gibt, ob ich sie abgerechnet habe oder nicht. Oder ich kann anhand der Liste die passende Datei heraussuchen et cetera.

LA

Was sind die Kategorien in der Tabelle?

AK

Inventarnummer, Editionsnummer, Standort – im Museum, in Sammlung so und so –, verfügbar oder verkauft, abgerechnet, gerahmt, ungerahmt.

LA

Dein Archiv scheint gut organisiert. Was gäbe es aufzuarbeiten?

AK

Ich bin ganz gut dabei, es gibt auch von allen Prints Farbmuster und Muster-Prints. Von den C-Prints habe ich jeweils die ganze Edition durchgeprintet, weil es später wirklich schwer ist, an das erste Ergebnis heranzukommen.

LA

Wäre es nicht interessant, wenn man nur eines aus der Auflage printet? Nach zehn Jahren brauchst du das Motiv wieder, die Technologie hat sich verändert und du musst neue Parameter setzen. Wäre nicht eigentlich interessant, dass eine Edition sich entwickelt, so, dass jeder Print dabei wieder zum Unikat wird?

AK

Jedes Mal dann wieder ins Labor?

LA

Die Farben, oh Gott!

AK

Ja, die Farben, und du stehst dann ja manchmal wirklich einen halben Tag da, um nur ein Bild zu filtern. Das fänd ich für mich unökonomisch.

LA

Wie wäre es denn, wenn du zum Beispiel einen neuen Print brauchst und nicht an dein Archiv rankämst, aus welchen Gründen auch immer – könntest du dann zum Beispiel deine Printerin anrufen und sagen, die und die Arbeit brauche ich?

AK

Das finde ich sehr luxuriös am digitalen Arbeiten. Bei den Inkjet-Prints würde das so funktionieren, da der Drucker viel konstanter druckt.

LA

Das heißt, es gibt nicht nur dein eigenes Archiv, sondern beim Printer entsteht noch ein Archiv?

AK

Und die Galerie hat natürlich auch noch ein Archiv. Das besteht aber aus kleineren Daten, Pressebildern zum Beispiel. Aber sie bewahren auch die Installationsansichten aller Ausstellungen auf und viele Texte und kennen natürlich viele inhaltliche Verbindungen meiner Arbeit und die Beziehungen, die ich zu meinen Sammler*innen, zu meiner Printerin, dem Rahmenbauer und zu anderen Galerien habe. Mir war aber immer wichtig, dass ich selbst die Testprints machen kann, besonders früher, in der analogen Dunkelkammerarbeit. Und jetzt habe ich einen Drucker, also auch ein kleines Labor, da kann ich bis DIN A2 drucken. Ich beschäftige mich viel selbst mit den Bildern, vor allem, um das richtige Bild auszuwählen und die Größe zu bestimmen, bevor ich sie dann weiter an meine Printerin gebe. Die Beschäftigung mit der Materialität des Bildes ist wichtig. Im digitalen Labor arbeite ich wie im analogen: „da etwas heller“, „hier abhalten“, „hier noch ein bisschen Rot raus“, aber mehr auch nicht.

LA

Bezogen auf den abgelegten Musterprint als Referenz: Der altert auch, oder?

AK

Ja, klar. Deswegen hätte ich ja so gerne diese Kühlkammer! Aber es gibt dann ja auch noch die Dateien, Scans, im Offset gedruckte Abbildungen in Büchern et cetera. Man könnte also den Print jederzeit rekonstruieren, wenn man das wollte. Wichtig sind natürlich auch die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite. Meine Printerinnen, Susanna Kirschnick und Christine Fenzel, kenne ich seit 20 Jahren, genauso den Rahmenbauer Hans-Jürgen Bonack. Sie wissen ganz genau, wie meine Bilder aussehen sollen. Sie alle sind selbst auch Künstler*innen und haben einen sehr guten Blick.

LA

Letztendlich ist es ein Kampf mit der Zeit. Selbst die Kühlkammer wird die Farben auf hundert Jahre gesehen nicht retten.

AK

Auch alle anderen Dinge altern, nicht nur die Fotografie. Eine Arbeit von Eva Hesse oder Andy Warhol sieht heute auch nicht mehr so aus wie 1960. Bei der Fotografie besteht sogar der Vorteil, dass man sie relativ einfach in den Originalfarben reproduzieren könnte, falls man das wollte. Das muss man sich in dieser ganzen Debatte um Erhaltungsfragen auch mal vor Augen führen.

LA

Würdest du es gut finden – wie von Andreas Gursky angeregt–,2 wenn in einem Institut für Fotografie spezifische Reproduktionsverfahren erhalten blieben und wenn ja, warum?

AK

Fotografie ist und war immer abhängig von technischen Entwicklungen, die sehr schnell voranschreiten. Es ist absolut sinnvoll, Reproduktionsverfahren zu erhalten, da sie ein Teil der Fotogeschichte, aber auch Teil unserer gesellschaftlichen Entwicklung sind. Wie das aussehen könnte, müsste allerdings genau überlegt werden, denn zur Technik gehören nicht nur die Geräte, sondern auch Chemikalien, Materialien und Papiere. Die Produktion vieler Papiere wurde eingestellt oder deren Emulsion im Laufe der Jahre verändert, das muss man bedenken. Wie würde man heute zum Beispiel einen Dye-Transfer-Print herstellen oder mit dem Cibachromverfahren arbeiten? Für manches Verfahren müsste man wahrscheinlich leider abwägen, ob der Aufwand nicht zu groß ist. Und am wichtigsten sind natürlich die Menschen, die das Wissen über die Technik und das Material haben und die in jahrelanger Erfahrung ihren Blick geschult haben. Ohne sie sind die besten Geräte wertlos.

LA

Wenn wir jetzt über dein aktuelles Projekt sprechen, was gehört für dich bei diesem Projekt oder dieser Werkgruppe zum Archiv? Gehört da zum Beispiel auch der Schriftwechsel dazu? Nicolaus Schafhausen hatte dich zu der Ausstellung Tell me about yesterday tomorrow im NS-Dokumentationszentrum in München (2019) eingeladen.3 In diesem Zusammenhang sind Die Bücher entstanden. Dem Projekt ist eine intensive Recherche vorausgegangen. Sind alle Schritte, die dich dazu geführt haben, Teil des Archivs?

AK

Ich habe vieles im Kopf und telefoniere gerne mit den Leuten. Ich schreibe meistens keine langen E-Mails. Ich war zum Beispiel oft bei Ralf Wassermeyer und seiner Frau Petra Sträz in Lübeck zu Besuch, um in ihrer Bibliothek Bücher vor Ort zu fotografieren. Ich habe fotografiert und währenddessen haben wir uns über die Bücher unterhalten. Ich habe Fragen gestellt und von meinen Recherchen berichtet und hatte Zettel mit Notizen dabei. Ralf hat sich Gedanken gemacht, welches Buch noch passen könnte. Er sagte dann: „Ja, da oben ist noch eins, das dich interessieren könnte, hol mal das aus dem Schrank“ und so weiter, und er hat dann dazu erzählt. Dann ging das Gespräch beim gemeinsamen Kaffee und Kuchen weiter. Das sind alles Informationen, die natürlich nicht verschriftlicht sind.

LA

Ein Kurator, der in 50 Jahren eine Ausstellung zu dem Thema macht, würde sich vermutlich die Finger danach lecken, wenn du den Ort fotografiert hättest, wo das Buch stand, wie der Sammler in Lübeck aussah, ob du da mit dem Auto oder mit dem Zug hingefahren bist. Es geht ja so weit, dass manchmal das Bahnticket mit ausgestellt wird, siehe Juergen Teller und die Einladung zum Bundespräsidenten, die er im Martin-Gropius-Bau mit ausgestellt hat.4

AK

Meine Einladung habe ich auch aufgehoben, aber eher als persönliche Erinnerung. Dies alles mitzudenken, dafür habe ich im Moment keine Zeit. Ich arbeite in einem kleinen Team, zum Fotografieren kommt ab und zu ein Assistent dazu und eine Assistentin führt mein Archiv und baut Modelle. Aber bei den meisten Abläufen bin ich alleine. Ich mache viel parallel und eigentlich müsste ich dringend Arbeit abgeben. Ich habe keine fünf Leute, von denen der eine die ganzen Schnappschüsse archivieren kann, der andere die Zugtickets und so weiter. Die Bücher habe ich angefangen, nach ABC zu ordnen. Es sind circa 300 verschiedene fotografierte Motive, und irgendwann drohte ich, den Überblick zu verlieren. Deswegen habe ich alle Titel sortiert. Aber die 300 sind nur der Pool an fotografiertem Rohmaterial. Daraus habe ich 100 Bilder ausgewählt und schließe die Serie gerade mit einem Buch ab.

LA

Wie sieht das aktuelle Archiv von Die Bücher aus?

AK

Die Bücher sind unter Autor*innennamen abgelegt, aber die digitalen Negative sind immer noch in nach Datum der jeweiligen Aufnahme benannten Ordnern.

LA

Und wenn du dir die Liste anschaust, gewinnst du außer Ordnung noch andere Erkenntnisse? Im Sinne von: Ich sehe hier zwei Bücher von Vicki Baum, ich sehe ganz schön viel Thomas Mann und so weiter?

AK

Ich habe von vielen Autor*innen mehrere Bücher fotografiert, weil ich mich vor Ort in den Archiven nicht für eines entscheiden konnte. Es gab so viele Bücher, wahnsinnig gute Bücher. Da ich mich aber konzeptionell festgelegt hatte, pro Autor*in nur einen Titel aufzunehmen, habe ich mich dann später für ein bestimmtes Buch pro Autor*in entschieden. Bei Erika Mann habe ich eine Ausnahme gemacht. Ich wollte unbedingt dieses Buch School for Barbarians in meine Arbeit aufnehmen, das sie im Exil geschrieben hat. Da ging es um Erziehung im Nationalsozialismus. Das war mir wichtig, obwohl ich zuvor schon ein anderes ausgestellt hatte, das mir aber ebenso gut gefallen hatte, das Kinderbuch Stoffel fliegt übers Meer. Auf dessen Cover ist ein Kind zu sehen, das einem Zeppelin nachschaut. Das Bild des Zeppelins als Militärmaschine und nationalistisches Symbol wollte ich mit dabeihaben. Die Ausnahme bestätigt die Regel.

LA

Gehen wir mal zu den anderen Arbeiten, zu den Stillleben. Wie ist es mit denen? Da gibt es Gegenstände, die du in deinen Bildern verwendest, die ja auch eine Art von Ressource sind. Und es gibt Hintergründe, die man eindeutig dir zuordnen muss, wenn man dich als Künstlerin kennt. Hebst du diese „Requisiten“ eigentlich auf?

AK

Ja, das mache ich tatsächlich. Allerdings: Weil hier im Atelier alles vollstand und ich gemerkt habe, dass ich dasselbe ständig nochmal fotografiere, wenn die Dinge hier rumstehen, gibt es ein paar Kisten mit Dingen, die ich am besten fand. Die sind im Lager.

LA

Würdest du die auch ausstellen? Als Objekte?

AK

Keine Ahnung. Ich dachte, das kann man mal aufheben, falls es mich oder jemand anderen einmal interessiert. Später kann ich es immer noch wegschmeißen, aber solange noch Platz im Lager ist, sind sie dort gut aufgehoben.

LA

Stichwort „helle Kammer“ und Transparenz: Ein Hintergrund oder ein Papier oder ein Muster oder ein Objekt, das physisch da ist – könnte man sagen – macht die Kammer heller?

AK

Ja, das kann sein. Aber mit den Rückblicken ist das ja so eine Sache. Es gibt nur wenige Leute, die sich dafür interessieren, was ich zum Beispiel in den 1990er-Jahren gemacht habe. Die Bilder aus der Zeit finde ich genauso gut wie die, die jetzt entstehen – aber im Moment gibt es wenig Leute, die sich dafür interessieren. Aber so ist es mir lieber als anders herum! Und in 20 Jahren: Wer interessiert sich dann dafür, welchen Hintergrund ich heute verwendet habe? Und vor allem, möchte ich dann die Requisiten überhaupt zeigen? Es könnte auch ziemlich ablenken und folkloristisch wirken. Im Helmut Newton Museum in Berlin gibt es eine Sammlung von Dingen, die dem Fotografen gehört haben. Unter anderem Schamhaar-Toupets, die die Models trugen, Newtons Safari Anzug, sein Auto und ein Nachbau seines Apartments in Monaco. Das fand ich immer sehr kurios und hat mich lange beschäftigt, auch im Hinblick auf die Camp-haftigkeit der 1980er-Jahre-Werbefotografie, von der ich die Ausläufer in Hamburg noch mitbekommen habe. Ich weiß nicht, ob ich mir das Ausstellen meiner Objekte vorstellen könnte. Die Objekte von Helmut Newton habe ich jetzt immer in Erinnerung, wenn ich Fotografien von ihm sehe. Aber ich beschäftige mich natürlich auch in meiner eigenen Arbeit mit Objekten. Vielleicht geht das nicht allen so.

LA

Also die Kategorie „Ephemera“ – die Hintergründe – gehört für dich nicht zur künstlerischen Arbeit.

AK

Nein.

LA

In der Hannah Arendt-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin5 war auch fragwürdig, dass da ein Zigarettenetui, eine Brosche und ein Jackett ausgestellt wurden. Hier würden wir gerne fragen, was du dir wünscht und was du gerne bitte nicht haben möchtest?

AK

Später, für meine Arbeit?

LA

Ja, genau.

AK

Das ist ein Prozess, der sich ständig in der Veränderung befindet. Heute würde ich es komisch finden, wenn jemand meine Schuhe ausstellen wollen würde. Da fällt mir ein: Über Facebook gab es mal eine sehr nette Anfrage von der Kuratorin eines Schuhmuseums. Sie hatte mich gefragt, ob ich ein paar alte Schuhe für die Sammlung schicken würde. Da habe ich ein bisschen überlegt und dann schließlich keine Schuhe hingeschickt, obwohl ich natürlich andererseits Schuhe aussortiere und in die Altkleidersammlung gebe. Aber ich fand die Vorstellung merkwürdig, dass da jemand ein paar alte Schuhe von mir möchte und offenbleibt, was dann mit ihnen gemacht wird.

LA

Daran riechen.

AK

Objekte sind mächtig und eignen sich gut für symbolhafte Handlungen. Im Mittelalter gab es Verbrennungen von Büchern, weil man dem Menschen nicht habhaft werden konnte. Das beschreibt Alexander Honold sehr eindrücklich in seinem Text „Canettis Blendung und die brennende Bibliothek“.

LA

Wenn man sich die Zukunft imaginiert, dann ist wahrscheinlich, dass man in ein Popkonzert gehen kann und Michael Jackson als Hologramm auftritt. Die Frage ist schon interessant, was zum Beispiel eine Ausstellung von dir im MoMa in 100 Jahren sein könnte. Würde es dir genügen, wenn einfach die Bilder an der Wand hängen, oder kannst du dir einen Umgang vorstellen, der darüber hinaus geht?

AK

Meint Ihr, ob dann noch irgendwelche Objekte zusätzlich ausgestellt werden? Oder unser Gespräch hier zum Beispiel?

LA

Ja. Es gibt ja auch oft zu einer Arbeit Zeitungskritiken, die mit ausgestellt werden, klassisch in einer Vitrine: Oben links ist ein Bild mit einer Coronamaske, das uns sagt: Aha, die Ausstellung war während der Zeit der Pandemie, unten rechts ist Heidi Klum und so weiter. Anhand einer Zeitungsseite kann man feststellen: Ach, das war die und die Zeit und in diesem Kontext wurde die Arbeit gezeigt.

AK

Das Werk wird verändert, je nachdem, um welches Material es ergänzt wird. Also abhängig davon, was man da noch mit in die Vitrine legt oder in welchem Zusammenhang, um das Beispiel zu nehmen. Das ist natürlich schwierig. Es werden oft Dinge hineingebracht, die eine Arbeit aufwerten – von jemandem, der noch bekannter ist. Für gewöhnlich wird dann nicht der Briefwechsel mit der Nachbarin oder mit irgend jemanden, den keiner kennt, mit in die Vitrine hineingelegt. Sondern da wollen natürlich alle den Briefwechsel mit Andy Warhol sehen. Ich schaue mir viele Ausstellungen auch im Hinblick auf diese Methoden an, weil sich damit auch zeigt, wie die Kunstwelt und auch letztendlich deren Geschichtsschreibung funktioniert und wie sie sich darstellt.

LA

Siehst du da mit einem eher kritischen Auge hin oder amüsiert dich das?

AK

Beides. Mich würden oft andere Sachen mehr interessieren als die, die hinzugefügt werden. Aber ich verstehe auch, dass jemand etwas aussucht, um die Masse anzusprechen oder die Arbeit in einen bestimmten Kanon einzuordnen – und vor allem, um die Sache aufzuwerten.

LA

Weil wir vorher vom Kunstmarkt gesprochen haben: Gehört es dazu, dass du den Sammlungen eine gewisse Provenienz zu deinen Arbeiten mitlieferst? Die Frage stellt sich vor dem Hintergrund, dass zum Beispiel in den 1990er-Jahren kein Mensch Inkjet-Prints gekauft hat. Man ging davon aus, dass sie nicht langlebig genug sind. Heute ist das überhaupt kein Thema mehr. Vielleicht ist Provenienz wichtig, um der Angst zu begegnen, wie der Werterhalt einer Arbeit gewährleistet werden kann. In dem Moment, in dem man als Künstlerin eine Galerie hat, die Nummern vergibt, ist man ja bereits Teil von diesem System. Findest du es selbstverständlich, dass es so ist? Würdest du es – wenn du keine Galerie hättest – genau so machen?

AK

Diese Regulierungen sind natürlich eine künstliche Verknappung. Die wird hergestellt, damit überhaupt ein Markt entsteht. Und das hat sich durchgesetzt. Wenn das so funktioniert, dann soll mir das Recht sein. Ich kann ja das System nicht neu erfinden. Und dann ist es auch nur fair, wenn man als Künstlerin die Verabredungen einhält. Das ist schon okay. Ich bin ja in diesen ganzen Kunstbetrieb eher so hineingeraten. Ich habe halt immer Sachen gemacht, die nirgendwo anders hineingepasst haben – und dann die Spielregeln übernommen. Michael Krebber hat bei einer seiner Ausstellungen versucht, die Regeln zu durchbrechen und hat die kleinen Bilder teurer angeboten und die großen billiger. Da haben sich natürlich die Großen verkauft und die Kleinen nicht.

LA

Gab es einen Moment, in dem klar war, dass du Künstlerin bist?

AK

Mich hat gewundert und gefreut, dass es funktioniert. In einem bestimmten Moment in meinem Leben dachte ich: Okay, jetzt fahre ich noch das halbe Jahr nach Los Angeles und nehme das Reisestipendium und dann das Arbeitsstipendium der Stadt Hamburg mit – und danach überlege ich mir was „Vernünftiges“, etwas, womit ich Geld verdienen kann. Werner Büttner hat uns in der Akademie immer gepredigt: Nur jeder 200. kann von seiner Kunst leben. Das hat sich mir so eingeprägt, dass ich nicht davon ausgegangen bin, es könne überhaupt eine Option sein, mit meiner Kunst Geld zu verdienen. Als Frau war es außerdem noch schwieriger, denn es entstand ja erst Ende der 1980er-Jahre ein Bewusstsein dafür, das kaum Arbeiten von Künstlerinnen in Museen und Galerien gezeigt wurden. Kunst war etwas, was man aus Idealismus gemacht hat. Das Berufsbild des*der Künstler*in, so wie es sich heute darstellt, gab es damals nicht. Ich habe glücklicherweise schon während des Studiums ab und zu mal Bilder verkauft. Ich war gut vernetzt und hatte relativ früh schon mehrere Galerien, die meine Bilder ausgestellt haben. Das hat sich auf eine spielerische Weise ergeben. Und dann mochte ich das Reisen auch so gern. Dass man irgendwo hinreist, eine Woche lang eine Ausstellung aufbaut, mit Leuten zusammen ist, sich austauscht. Ich mochte dieses abwechslungsreiche Arbeiten. Und dass ich dann tatsächlich von den Verkäufen leben konnte, war natürlich toll. Meine erste Ausstellung war 1999 im Golden Pudel Club in Hamburg in einem kleinen Raum, der Galerie Nomadenoase, die damals die Akademie Isotrop betrieb. Die Ausstellungen fanden nur montags statt. An den übrigen Tagen wurden Bierkästen in diesem Raum gelagert.

LA

Toll! Und gibt es da zum Beispiel Installationsaufnahmen von der Ausstellung im Pudel Club?

AK

Keine Ahnung, da müsste ich mal in die alten Ordner gucken. Wahrscheinlich!

LA

Du kannst dich nicht erinnern, ob du welche gemacht hast?

AK

Ich kann mich nicht erinnern. Ich kann mich nur erinnern, dass ich den Flyer aufgehoben habe.

LA

Machst du generell Installationsaufnahmen von deinen Ausstellungen?

AK

Ja, das mache ich jetzt immer mehr. Bei meinem letzten Buch habe ich gemerkt, dass 80 Prozent der Installationsaufnahmen so schlecht sind, dass man sie überhaupt nicht verwenden kann. Die sehen zwar auf den ersten Blick gut aus, aber dann sehen die ausgestellten Bilder klein wie Briefmarken aus und man kann den Raum nicht gut erfassen, weil überwiegend mit Weitwinkel gearbeitet wird. Auch wenn dadurch der ganze Raum auf dem Bild zu sehen ist, kann man nichts erkennen, da hilft das Weitwinkelobjektiv auch nicht weiter. Ein Ausschnitt, der die Zusammenhänge zwischen den Bildern und dem Raum gut darstellt, sagt oft mehr aus.

LA

Die Installationsaufnahme ist schließlich auch so eine Form von Archivierung, die man anscheinend selber gewährleisten muss, ausgehend von der Erkenntnis, dass sie entweder schlecht oder gar nicht gemacht wird. Interessant ist, apropos Archiv, wie unterschiedlich in das Archiv gearbeitet wird: In den 1970er-, 1980er-Jahren waren selbstverständlich Personen auf den Installationsaufnahmen – als Maßstab. Dann in den 1990er-Jahren diese leeren, weißen Räume. Hier sieht immer alles so aus wie ein cleanes Modell. Und neuerdings kommen wieder Leute mit rein. Auch da gibt es richtige Trends. Es werden ständig neue Standards formuliert. Oft kommen diese Standards von außen. So lernt man ja auch auf der Akademie, dass man ein Datum auf den Kontaktbogen schreibt.

AK

Ein Datum habe ich zum Beispiel auf keinem einzigen Kontakt. Ich habe nur Nummern.

LA

Auch kein Jahr?

AK

Nein, nichts.

LA

Das ist jetzt die Information des Tages!

AK

Die Kontakte sind chronologisch geordnet. Man könnte anhand des Kalenders rekonstruieren, wann ich wo war.

LA

Okay, dann müsstest du das Jahr erstmal recherchieren.

AK

Ja, und dann die Bilder, die ich ausgewählt habe. Denn ich habe ja meistens mehrere Bilder von der gleichen Aufnahmesituation. Früher habe ich ja selbst vergrößert. Da sind dann Kleber auf dem Kontaktbogen.

LA

Aber das wird dann schon alles aufgehoben, du schmeißt die Nichtausgewählten dann ja nicht weg, oder?

AK

Negative habe ich noch nie weggeschmissen.

LA

Aber was ist mit Steuerordnern, die nach zehn Jahren weggeschmissen werden können? Dort finden sich ja Reisekostenabrechnungen, Materialkäufe, Werbemittel und so weiter. An ihnen kann man ablesen, wohin man gereist ist, wo man übernachtet hat, was man gekauft hat. Diese Informationen sind dann verloren.

AK

Man kann nicht alles aufheben. Man erstickt sonst auch in diesen Sachen.

LA

Eine Kuratorin erzählte von der Sichtung eines Archives für eine Ausstellung, dass der Künstler alles – wirklich alles – aufgehoben hatte. Und dadurch, dass alles bewahrt wurde, sei die Qualität der künstlerischen Arbeit im Gesamteindruck verwässert. Als Beispiel: Wenn ich 100 Bilder habe, die ich ausstelle, und im Archiv sind 1000 Bilder, dann habe ich ein Output im Verhältnis von 1 zu 10. Wenn da aber 10.000 sind, wurde ganz schön viel fotografiert für die paar Bilder.

AK

Aber so denke ich gar nicht. Wichtiger ist doch, dass man die entscheidenden Bilder aussucht. Das ist gerade jetzt, in unserer digitalen Zeit, wesentlich: Dass man lernt, welche Bilder wichtig sind und welche nicht. Wie viel man dafür fotografiert, ist eigentlich egal. Ich würde das nicht als ein Qualitätsmerkmal herausstellen. Manche machen 500 Aufnahmen, um zu einem Bild zu kommen, und andere machen zehn. Entscheidend ist, das der- oder diejenige im richtigen Moment die Aufnahme macht. Ich finde es eher wichtig, dass das eine Bild, das ausgesucht wird, wirklich stimmt.

LA

Da stellt sich doch die Frage: Ist ein helles, durchsichtiges Archiv ein gutes Archiv? Im Sinne der Transparenz?

AK

Wichtig ist doch erstmal, dass ich als Künstlerin weiß, worum es mir geht. Aber ob das Archiv dann für andere nachvollziehbar ist? Wichtiger ist, denke ich, dass man den ganzen Kontext kennt, mit welchen Leuten man in Kontakt war, wie die Arbeit gedacht war und so weiter. Was bei mir sicher interessant ist, sind meine Ausstellungsmodelle. Ich schicke davon immer Fotos an die Kurator*innen. Und in der Zusammenarbeit verändert es sich dann immer weiter. So entwickeln sich Hängungen, die funktionieren. Vor Ort muss ich sie natürlich nochmal anpassen. Das ist der Prozess. So etwas finde ich eher interessant: Arbeitsprozesse.
In der Zeit, als ich selbst in der Dunkelkammer gearbeitet habe, habe ich ganz viele Motive vergrößert und beim Vergrößern gemerkt, welche für mich funktionieren und welche nicht. Die Abzüge habe ich dann nicht weggeschmissen, sondern in einer Kiste mit Abzügen von verschiedenen Negativen bewahrt. Und dann habe ich vier davon rausgesucht und die dann noch mal vergrößert, Größentests gemacht und so weiter. Und am Ende blieb dann irgendetwas übrig, das ich dann als Arbeit herausgeben konnte. Die anderen verstehe ich nicht als Arbeit, sondern begreife sie als Vorstudien. Die sind sicher interessant, da man an ihnen Prozesse ablesen kann.

LA

Ja, es ist wichtig, dass das Narrativ oder das, was dann in einem Archiv übrigbleibt, zunächst einmal von dir als Künstlerin bestimmt wird. Was du im Archiv nicht haben willst, nimmst du eben raus. Das taucht im besten Fall gar nicht auf.

AK

Manche Sachen sind für einen selbst auch als Erinnerung ganz schön zu behalten – aber man will die nicht unbedingt zeigen oder ausstellen. Das sind die Probleme dieser ganzen Nachlassverwaltung. Das wird so unterschiedlich gehandhabt. Manche verwenden das Material einfach, um Geld zu verdienen. Andere versuchen streng zu schauen, dass es im Sinne der Künstler*innen läuft. Wobei, das lässt sich ja oft auch gar nicht sagen. Bei Michael Schmidts Ausstellung im Hamburger Bahnhof habe ich mich auch gefragt, ob Michael damit einverstanden gewesen wäre, dass man seine Serien nur auszugsweise zeigt.6 Weil er ja doch recht streng war. Das habe ich immer an ihm bewundert. Ich würde annehmen, im Sinne von: entweder die Serie ganz zeigen oder gar nicht. Obwohl ich nie mit ihm direkt darüber gesprochen habe. Ich denke, dass die Kurator*innen Laura Bielau und Thomas Weski die Hängung sehr gut gemacht haben. Die Auswahl der Bilder ergab einen sehr guten Überblick über die verschiedenen Arbeiten, auch wenn ich die Serien lieber vollständig gesehen hätte. Es war schön, die frühen Arbeiten zu sehen, die ich noch nicht kannte. Es muss bestimmt schwer gewesen sein, diese Ausstellung zu hängen und die Entscheidungen zu treffen, denn soviel ich weiß, war es die erste große Ausstellungshängung, an der Michael nicht mehr selbst beteiligt war. Hätte Michael noch gelebt, hätte es auf jeden Fall anders ausgesehen, so viel ist sicher, nur: Das lässt sich natürlich mit nichts zurückholen.

LA

Ja, das ist in seinem Fall eine Herausforderung. Wie geht man damit um?

AK

Ich fand es schon sehr gut, aber man hat eben gesehen, dass es nicht der Künstler gemacht hat. Das kann auch echt nach hinten losgehen, wenn ein*e Kurator*in es so wie der*die Künstler*in machen will. Bei Wolfgang Tillmans stelle ich es mir auch schwierig vor, eine Hängung ohne ihn zu machen.

LA

In solchen Fällen wird vermutlich mit Rekonstruktionen gearbeitet.

AK

Ja, klar, du kannst die Sachen natürlich rekonstruieren, aber das geht nicht in jedem Fall.

LA

Aber so ist das halt, wenn jemand gestorben ist, dann ist auch die Dynamik im Werk zum Ende gekommen. Gibt es da eine*n Künstler*in, von dem*der du sagst: Das würde mich interessieren, wie hier mit dem Archiv umgegangen wird?

AK

Bei Hans Hansen ist das Archiv natürlich wahnsinnig toll. Ich hatte Camera Austria vorgeschlagen, Hans für eine Ausstellung einzuladen, was sie dann auch taten.7 Hans wollte aber nicht selbst entscheiden, welche Bilder er zeigt, also hatte er gefragt, ob Hendrik Schwantes und ich Lust hätten, mit ihm zusammen die Bilder für die Ausstellung auszusuchen. Das Schöne daran war auch, dass wir auf diesem Wege viel Zeit miteinander verbracht haben und über Fotografie sprechen konnten. In diesem Zuge hatte er uns sein Archiv gezeigt. Er hat Ordner voll mit Dokumentationen von Lichtsituationen, wie er Autos fotografiert hat, für den Fall, dass er die Produktion hätte wiederholen müssen. Die Polaroids hatte er dazu eingeklebt. Es gibt 18 × 24 inch Diapositive, natürlich alle auf den Punkt belichtet, Dye-Transfer Prints, Baryt-Prints. Alles technisch High End. Hans hat erzählt, dass er nun seinen Vorlass an das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg übergeben wird. Es ist natürlich sehr schön für ihn, dass er das zu Lebzeiten machen kann und so versteht man natürlich vieles besser. Denn wenn es jetzt aufgearbeitet wird, ist er noch für Fragen da und er kann dafür sorgen, dass alles in seinem Sinne gemacht wird. Es ist auch gut – um Michaels Arbeit zu verstehen – mit Karin Schmidt zu sprechen. Weil sie natürlich jahrelang involviert war, eine sehr kluge Frau ist und wundervolle, sehr poetische E-Mails schreibt, in denen ich Michael und wie er gedacht hat, ein Stück wiederfinde.

LA

Das Feld des Partners, der Partnerin.

AK

Die ja wirklich meist sehr viel beitragen.

LA

Wie ist das bei dir?

AK

Da mein Mann mit Text arbeitet, geht es in unserem Austausch meist um Texte. Wenn ich ihm Bilder zeige, stresst ihn das eher, weil er denkt, er müsse eine Bildanalyse abliefern. Aber das erwarte ich gar nicht. Ein einfaches „finde ich gut“ oder „finde ich nicht gut“ reicht mir in den meisten Fällen schon.

LA

Er will keine Bilder sehen?

AK

Wenn er ein Bild gut findet, kann ich das daran erkennen, dass er sich einen Ausdruck, den ich ihm davon mitbringe, an die Wand hängt. Dann sehe ich: Ah ja, das funktioniert.

LA

Wie ist das mit Recherchematerial? Deine Arbeiten gründen ja auch oft auf einer tiefen inhaltlichen Auseinandersetzung.

AK

Gute Frage, das ist so eine Sache. Jetzt habe ich zum Beispiel so viele Bücher zu den Bücherverbrennungen hier stehen …

LA

Im Original?

AK

Teilweise habe ich Originalausgaben aus der Zeit der Weimarer Republik, die ich dann fotografiert habe, hinzugekauft. Aber ich bin jetzt keine Büchersammlerin. Das sind oft Bücher, die ich gekauft habe, weil sie keiner hatte und ich sie fotografieren wollte. Zum Beispiel ein Buch der Pädagogin Mathilde Vaerting, Bücher von Rosa Luxemburg oder die Reportage Dachau von Walter Hornung, die er 1936 nach seiner Flucht geschrieben hat und die im Schweizer Exil verlegt wurde. In der Hauptsache handelt es sich aber um Sekundärliteratur über die Bücherverbrennung und die Buchgestaltung in der Weimarer Republik, Bücher über Georg Salter, John Heartfield und Schriftsteller*innen im Exil.

LA

Wissenschaftliche Arbeiten?

AK

Genau, da habe ich jetzt sehr viel gesammelt. Auch Autobiografien von Autor*innen der Zeit wie die von Gina Kaus, Salka Viertel oder Klassiker wie Die Welt von Gestern von Stefan Zweig. Da werde ich jetzt wahrscheinlich die für mich wichtigsten Bücher hierbehalten und die anderen packe ich in Kisten, wenn ich die Arbeit abgeschlossen habe.

LA

Es ist nicht dein Anliegen so etwas bereit zu halten? Etwas, mit dem man sich sehr stark beschäftigt hat, worin man dann auch zu einer Expertin wird.

AK

Es ist immer die Frage, wie wichtig man sich da nimmt. Ich packe das erstmal alles in einen Karton und stelle alles ins Lager. Denn das ist auch Ballast, der mich davon abhält, Neues zu entdecken. Ich mag sehr gerne, dass ich mir jeden Tag überlegen kann: Was will ich jetzt machen? Für die Archivarbeit und manche Fotoprojekte wie Die Bücher arbeite ich mit einem Assistenten, oft bin ich aber auch alleine im Atelier. Bei manchen Projekten ist es besser, für mich alleine zu arbeiten. Die Travertin-Säulen (Recycling Park Neckartal, 2019) habe ich meist alleine fotografiert. Denn wenn ich draußen fotografiere, bin ich stark vom Wetter abhängig. Oft fahre ich dann spontan los. Um um 5 Uhr morgens zu fotografieren, fiel es mir bisher schwer, jemanden zu begeistern mitzukommen. Und ich genieße die Momente, in denen ich allein da stehe mit der Kamera und zusehe, wie die Sonne langsam aufgeht, das ist ein schönes Gefühl von Freiheit.

Footnotes

  • 1Annette Kelm, KW Institute for Contemporary Art, 3.5.–9.8.2009.
  • 2Siehe Interview mit Andreas Gursky und Moritz Wegwerth in: Der Spiegel, Nr. 3/2020.
  • 3Tell me about yesterday tomorrow. Eine Ausstellung des NS-Dokumentationszentrums München über die Zukunft der Vergangenenheit, München, 28.11.2019–18.10.2020.
  • 4Juergen Teller, Enjoy Your life!, Martin Gropius Bau, Berlin, 20.4.–3.7.2017.
  • 5Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert, Deutsches Historisches Museum, Berlin, 27.3.–18.10.2021.
  • 6Michael Schmidt – Retrospektive. Fotografien von 1965–2014, Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Berlin, 28.8.2020–17.1.2021.
  • 7Hans Hansen: Atelier, ein Projekt von Annette Kelm, Hendrik Schwantes und Hans Hansen, Camera Austria, Graz, 18.3.–4.6.2017.