Sibylle Bergemann
Es ist sehr beruhigend, dass wir anscheinend schon ihre Augen und ihren Blick bekommen haben. Frieda und Lily von Wild über den Estate von Sibylle Bergemann.

LA

Dies ist das erste Gespräch, in dem es um den Nachlass einer gestorbenen Künstlerin geht, um den Nachlass von Sibylle Bergemann. Bisher haben wir direkt mit den Künstlerinnen und Künstlern gesprochen und sie zu den Organisationsformen ihres Materials befragt. Auch wenn es vielleicht schmerzhaft ist, scheint uns fast zwingend, mit dem Jahr des Todes von Sibylle Bergemann anzufangen. Wenn man Texte und Biografien über sie liest, taucht immer wieder auf, dass sie nach langer, schwerer Erkrankung verstorben ist. Bedeutet das nicht, dass sie ihre eigene Endlichkeit deutlicher vor Augen gehabt haben muss als vielleicht viele andere, auch ältere Künstler*innen?

FvW

Definitiv. 

LA

Wir fragen uns, ob sie sich damit auseinandergesetzt oder gar darum gekümmert hat, was nach ihrem Tod mit ihrer Arbeit passiert.

FvW

Sie hat sich ziemlich auf uns, auf mich verlassen. Wir haben das tatsächlich am Ende auch besprochen. Es gibt bisher keine Institution, die unserem Wunsch entspricht, was mit ihrem Archiv passieren soll. Das ist das eine. Das andere ist, wenn es die gäbe, wer sind dann die Leute, die entscheiden, was zu ihrem Werk gehört? Wir haben jetzt die ersten 2000 Filme neu gesichtet, also Kontaktbögen von den ersten 2000 Filmen – bis 1974 – und haben daraus eine extrem subjektive Essenz von 25 oder 30 Bildern ausgewählt, von denen ein paar auch in der Ausstellung hängen werden.1 Das hätte niemand außer uns entscheiden können. Solange wir damit nicht durch sind, muss der Nachlass in der Familie bleiben. 

LvW

Vielleicht hätte es schon jemand entscheiden können. Bei diesen Bildern, also bei diesen neuen Vergrößerungen hätte das auch eine Kunsthistorikerin oder ein Kunsthistoriker, der oder die sehr gut mit ihr zusammengearbeitet hat, entscheiden können. Aber es freizugeben ist, glaube ich, eher das Problem.

LA

Genau – denn das würde ja auch bedeuten, dass ihr loslassen müsstet von dem Werk. Und das kann ja nur eine Person gewährleisten, der ihr vertraut.

LvW

Katia Reich, Leiterin der fotografischen Sammlung der Berlinischen Galerie und Kuratorin der Ausstellung, hat ja mit gesichtet. Es gibt sehr wenige, die das können.

FvW

Bei diesen 2000 Filmen bzw. Kontaktbögen kommt man auf circa 36.000 Bilder. Ich würde das Material auch irgendwann noch einmal durchsehen wollen, weil die Essenz – also das, was wir für die Ausstellung und für den Katalog rausgesucht haben – tatsächlich auch für diese Ausstellung und diesen Katalog gedacht ist. Aber eigentlich habe ich noch ganz viele großartige Bilder gesehen. Es ist ganz gut, wenn man zu dritt ist. Ich werde ja gerne auch mal kleinteilig, zu dritt kann man auch mal sagen: Nee, so ist gut.

LA

Hat Sibylle ihre Filme nummeriert? Und ist das das einzige Ordnungskriterium? Das wäre ja eine Systematik.

FvW

Die Filme sind chronologisch durchnummeriert und auf den Negativhüllen steht meistens auch das Jahr. Und wenn es nicht draufsteht, kann man es durch das davor und danach relativ gut zuordnen. Wenn wir jetzt mit den Negativen weitermachen … das Ganze ist ein Puzzle. Zum Beispiel gibt es ein Buch von ihr, da stehen die wichtigen Negativnummern drin. Da steht dann zum Beispiel die Negativnummer soundso und Naumburg. Dann kann man das wunderbar zuordnen. Aber wenn ich nur das Schwarz-Weiß-Bild sehe, weiß ich ja nicht, ist das Naumburg?

LA

Wenn du das Positiv siehst?

FvW

Ja, wenn ich das Positiv sehe. Wenn ich die Negativnummer weiß, kann ich das Bild finden. Aber nicht umgekehrt. Wenn ich nur das Bild habe, ist es sehr schwer, das Negativ dazu zu finden. Aber manchmal hat man Glück.

LvW

Auf manchen Positiven ist keine Negativnummer hinten drauf vermerkt, da hat man dann Pech.

FvW

Es bleibt ein riesiges Puzzle. Viele Teile haben wir schon zusammengefunden. Eure vorherige Frage, ob sie sich ihrer Endlichkeit bewusst war: Natürlich war ihr irgendwie gewiss, dass das Leben für sie endlicher ist als für andere.

LvW

Es waren sechs Jahre.

FvW

Sechs Jahre, von der ersten Diagnose an.

LvW

Damals hieß es, nur ein Jahr noch.

FvW

Und was sie in diesen sechs Jahren gewuppt hat! Manche schaffen das ihr ganzes Leben nicht. Sie hat vorwärts gearbeitet hat. Sie hat sich nicht wirklich um das Archiv gekümmert. Sie wollte noch Bilder machen, sie wollte fotografieren.

LA

Wir haben versucht, uns in die Psyche eines Menschen hineinzuversetzen, der sehr krank ist, aber wahrscheinlich damals schon in dem Bewusstsein gearbeitet hat, eine der bedeutenden Fotografinnen Deutschlands zu sein – oder? Zumindest stellt sich das in der Rückschau so dar. Du sagst ja, sie wollte machen. Das heißt ja in der Konsequenz, man beschäftigt sich vielleicht nicht so viel mit dem Archiv. Und gleichzeitig tauchte doch bestimmt irgendwann die Frage auf: Was passiert eigentlich mit meinem fotografischen Erbe? Hat Arno Fischer da auch mitgeredet? Waren da Museumsleute dran? Es war ja bekannt, dass sie sterben würde. 

FvW

Da hat sich, glaube ich, keiner drum geschert. Es gab im Keller diese Stahlschränke mit den Kontaktbögen und den Negativen. Die Negative sind in diesen DDR-Pergamin-Hüllen, alles relativ gut sortiert. Also, ich habe sie sortiert. Die Negative waren halbwegs in Ordnung, aber die Kontakte … das waren Schubladen voll mit Kontaktbögen. Da habe ich in einem Sommer hier nachts noch draußen gesessen und solange weitergemacht, bis ich fertig war. Alle Kontaktbögen chronologisch, also numerisch sortiert. Numerisch ist in dem Fall beinahe chronologisch, weil sie immer hintereinander weg nummeriert sind. Da reist immer mal wieder eins aus, weil es übersehen wurde, aber irgendwie passen die immer doch rein. Sibylle hat dann auch angefangen, Kontaktbögen wegzuschmeißen.

LA

Wann war das, als du im Garten saßt? Als sie noch lebte?

FvW

Jahreszahlen sind nicht meine Stärke. Ich weiß auch nicht mehr, ob sie da schon krank war oder ob das sowieso mal gemacht werden musste, weil alles ziemlich chaotisch war. Parallel dazu wurden dann eben auch diese ganzen Negativstreifen durchgesehen. Das hat sie, glaube ich, selber gemacht. Sie hat anhand der Kontaktbögen rausgesucht, was sie nicht mehr braucht und was sie eigentlich wegschmeißen wollte.

LA

Wegschmeißen?

FvW

Einen Teil der Negative hat sie weggeschmissen. Dann hat aber jemand im Keller aufgeräumt und hat die aussortierten Kontaktbögen fein säuberlich wieder einsortiert. Das ist für uns manchmal blöd, weil nicht ganz klar ist, wenn was nicht auf Anhieb zu finden ist: Ist es nicht zu finden, weil es nicht zu finden oder schlicht und einfach nicht mehr da ist? Weggeschmissen. Also manches sucht man hier schon. Das mit der Sucherei, das hätte ich nicht zu erben brauchen. Das ist nicht schön.

LA

Aber gab es in der Zeit ihrer letzten Lebensjahre Überlegungen, ob es eine Institution geben könnte, die ihren Vor- oder Nachlass aufnimmt?

LvW

Sibylle hat kein Testament geschrieben.

FvW

Wir haben natürlich überlegt, ob der Nachlass an die Akademie der Künste gehen könnte. Wir haben das alles überlegt, klar. Aber wer ist dann die- oder derjenige, die zum Beispiel in der Akademie sitzt und darüber entscheidet, was mit dem Werk passiert? Deshalb nein, es gibt keine Institution. Da wäre noch die Agentur Ostkreuz.2 Die kann das aber auch nicht leisten. Die hat keinen Platz und gar keine Kapazitäten, so einen großen Nachlass aufzubereiten

LA

Das Werk soll also nicht in irgendwelchen Kellerräumen verschwinden. Es braucht jemanden, der einerseits verantwortungsbewusst mit dem Werk umgeht, aber vielleicht auch aktiv damit arbeitet. Das seid gerade ihr.

FvW

Es muss noch viel gesichtet werden, da schlummern wirklich noch Schätze. Damit haben wir jetzt angefangen. Man sieht auch auf den Kontaktbögen, dass Sibylle selbst schon angefangen hatte, aber da ist sie leider nicht weit gekommen. Es war klar, dass sie irgendwann loslassen musste. Und sie wusste, dass es dann in meinen Händen ist. Wer hätte es denn sonst machen sollen? Und dass Lily auch noch mit im Boot ist – besser geht es ja gar nicht!

LA

Es gab schon recht viele Ausstellungen nach dem Tod von Sibylle. Ihr kommt ja jetzt auch gerade wieder von einer. 

FvW

Ja, wir haben gerade die wunderbare und noch von Sibylle selbst konzipierte ifa-Tourneeausstellung in Sofia gehängt und eröffnet.3 Bei den Ausstellungen, die wir nach ihrem Tod erarbeitet und kuratiert haben, habe ich immer darauf geachtet, das neues, unbekanntes Material dabei ist.

LA

Das heißt, ihr musstet recht bald nach dem Tod von Sibylle eine Form des Umgangs finden.

FvW

Es hat eine Weile gebraucht.

LvW

Es war gefühlt ein Jahr lang eine richtige Überforderung.

LA

Okay, das heißt nach dem Tod von Sibylle brauchte es erst mal ein bisschen Zeit.

FvW

Ja, um zu überlegen.

LvW

Letztlich ist doch alles sehr organisch passiert. Es gab nie den Punkt, an dem wir uns hingesetzt und uns gefragt haben: Wie gehen wir jetzt weiter vor? Bleibt das Archiv hier? Alles passierte immer in Gesprächen und aus dem Affekt heraus. Wir sind auseinandergezogen. Und dann ist Arno leider gestorben. Da war klar: Hier ist niemand mehr in diesem Haus. Aber Sibylles Archiv war noch hier.

FvW

Mit Arno und Bernd Heise, dem Leiter des Leonhardi-Museum in Dresden – ein großartiger Mensch –, haben wir noch zusammen das Polaroids– und das Fenster-Buch gemacht.4 Das war eine gute Zusammenarbeit. Das war auch für Arno ein wirklich letztes Geschenk an Sibylle: sich da reinzuknien und diese beiden Bücher zu machen. Das Polaroids-Buch hatte sie mit Ostkreuz und der damaligen Leiterin Betty Fink im Prinzip schon angefangen, aber das haben wir dann relativ bald verworfen, weil wir gemerkt haben: Das funktioniert so für uns nicht. Wir müssen das selbst machen. Wir können an das Vorhandene anknüpfen und wir haben an vielen Stellen angeknüpft. Aber wir haben alles noch einmal neu in den Topf geworfen.

LA

Du sagst ja, Lily, dass sich alles relativ organisch ergeben hat. Und jenseits der jetzt anstehenden Ausstellung in der Berlinischen Galerie gab und gibt es ja eine rege Ausstellungstätigkeit, die ihr initiiert, verwaltet und mitorganisiert habt, in den letzten zehn, zwölf Jahren nach dem Tod von Sibylle. Wie geht man da vor? Auf welcher Basis konntet ihr arbeiten?

FvW

Es gab drei oder vier Jahre, in denen ich überhaupt nicht fit war, nicht gesund. Da hatte ich keine Energie, keine Kraft und bin ich mit vielem auch wirklich nicht hinterhergekommen. Da ist es mir auch schwergefallen, auf diese ganzen Anfragen zu reagieren und die Aufgaben zu erfüllen, ich habe manches auch einfach nicht gebacken gekriegt. Es funktioniert jetzt aber gut, besser.

 

LvW

Was ich mit dem Organischen meinte, ist, dass vieles den Dynamiken des Lebens geschuldet ist. Frieda ist zum Beispiel raus aufs Land gezogen und lebt nun mit dem Archiv. So ist es schon mal sehr viel leichter, wenn irgendwelche Anfragen kommen.

 

FvW

Am Anfang bin ich immer von Berlin hierher rausgefahren. Irgendwann dachte ich, ich muss jetzt mal wenigstens drei Monate am Stück hierbleiben. Muss mal klar Schiff machen. Dann war ich drei Monate hier. Aber man schafft es definitiv nicht, in drei Monaten hier klar Schiff zu machen. Und ich wollte dann auch nicht wieder weg und bin hiergeblieben.

 

LvW

Und ab da haben sich die Dinge ergeben. Damals war noch unglaubliches Chaos hinten im Archivraum. Und als ich mein Abitur gemacht hatte, kam der Punkt zu sagen: Ich habe jetzt ein Jahr frei und könnte hier was tun. Und in dem Moment kam Friedrich Loock auf Frieda zu. Das war auch wieder so ein Zufall. Friedrich kam und wir begannen, mit ihm das Archiv weiter aufzuarbeiten. Er hatte seine ersten Erfahrungen mit York der Knöfels Nachlass gemacht, daran hat er angeknüpft. Und wir hatten die minimale Archivordnung von Sibylle, die dann mit reingeflossen ist.

 

FvW

Der Deal war: Wenn er das Werkverzeichnis macht, darf er Bergemann exklusiv verkaufen.

LA

Das war so um 2012?

FvW

2013/14. Zu dem Zeitpunkt waren wir alle noch relativ unerfahren, wir würden heute vieles anders angehen. Ich wusste es ja auch nicht besser! Aber Friedrichs FileMaker ist tatsächlich eher ein Verkaufskatalog.

LA

Was heißt das, Verkaufskatalog? Viele arbeiten ja mit FileMaker.

FvW

Das heißt, dass die Informationen, die da drinstehen, für die Galerie relevant sind. Wenn ich ein Bild verkaufen will, sind die Informationen andere als die, die ich mir für das Werkverzeichnis wünsche.

LvW

Für die Galerie ist es interessant, von wann das Bild ist, ob eine Signatur drauf ist oder nicht und so weiter. Das ist natürlich auch für uns alles wichtig. Ich würde mal sagen, das System ist eigentlich gut, aber es fehlt eben auch viel. Alles, was dort drinsteht, ist natürlich wichtig: Papierformat, Blattformat, also Bildformat. Aus welchem Jahr ist das Bild und ist es ein Vintage? Was ist das für ein Papier etc.? Das ist für Veröffentlichungen auch wichtig, aber es fehlen oft Details.

FvW

Für den Anfang ist es gut. Aber zehn Jahre später ist halt auch nicht mehr wirklich der Anfang.

LvW

Damals war auch die Technik noch eine andere. Wenn ich mir angucke, wie mein Handy damals aufgebaut war, dann verstehe ich auch, dass wir nicht darüber nachgedacht haben, dass vieles über das Internet möglich sein könnte, zum Beispiel auf das Archiv zuzugreifen, das bei Friedrich in der Galerie ist.

FvW

Und jetzt ist vieles möglich, worum ich sieben Jahre lang gebeten hatte. 

LA

Das bedeutet, dass das Archiv bei euch ist und die dazugehörenden Daten in der Galerie, eingebettet in ein System, das alle Künstler*innen des Galeristen umfasst?

FvW

Zum Teil. Wir haben das ja nicht strukturiert, chronologisch gemacht, sondern immer nach Bedarf Informationen eingearbeitet. Anders schafft man es auch nicht – wenn eine Anfrage nach dem und dem Foto kam, habe ich zugesehen, dass ich alle dazugehörigen Fotos finde und hab sie in die Galerie geschafft.

LvW

Wir haben schon auch hier vor Ort Kisten mit Material organisiert. Ich war ein bis zwei Tage hier, bin dann nach Berlin gefahren und war dann einen Tag in der Galerie, wo ich das Material eingepflegt habe. 

FvW

Ursprünglich gab es diese grauen Archivkisten, wo die Fotos, also die Positive, drin waren. Theoretisch waren diese Kisten sortiert. Von der Katharina Thalbach zum Beispiel gibt es eine eigene Kiste. Aber oftmals war alles durcheinander. Es war immer in allen Kisten alles. Das stimmt tatsächlich. Ich habe immer wieder mal so eine Kiste mit nach Berlin genommen und die durchgearbeitet. Ich würde zum Beispiel heute auch die Nummern des Werkverzeichnisses anders vergeben. Aber jetzt haben wir auch da inzwischen über 2000 Einträge. Das jetzt noch mal zu ändern geht nicht. 

LA

Nach welchem System habt ihr die Nummern denn vergeben? Wie es reingekommen ist?

FvW

Nee, nach der Jahreszahl der Entstehung. Doch dann stellt sich jetzt bei manchen raus: Die Jahreszahl stimmt nicht. Wie geht man damit um? 

LvW

Diese Daten müssten dann eigentlich alle neu eingetragen werden und das zieht einen Rattenschwanz von Folgeproblemen nach sich. Ich war im Grunde in der Galerie in einer schwierigen vermittelnden Position. Ich habe von Friedrich Anweisungen bekommen, wie ich es machen soll. Ich dachte natürlich, es wäre mit Frieda auch kommuniziert, und am Ende haben wir uns da tatsächlich schon auch mal gestritten. Weil ich da meistens zwischen den Stühlen stand. Ich habe natürlich verstanden, was Friedrich gemeint hat. Und ich habe auch verstanden, was Frieda gemeint hat. 

FvW

Es hat ja auch alles bei ihm in der Galerie stattgefunden. Ich habe immer von hier versucht, die Dinge halbwegs mitzusteuern, habe mich dann aber mit dem zufrieden geben müssen, was ich bekommen habe. So wurde es wenigstens irgendwie gemacht.

LA

Sibylle Bergemann war Zeit ihres Lebens doch auch eine gefragte Fotografin, hat viele Aufträge erhalten und hatte – hoffentlich – auch ihr finanzielles Auskommen durch die Fotografie, oder?

FvW

Also das täuscht. Üppig war es nicht. Um dieses Dach hier zum Beispiel neu zu decken, musste sie wirklich mühsam abzahlen. 

LvW

Ich glaube, dass ihr auch keineswegs bewusst war, dass sie zu den renommierten Fotografinnen Deutschlands zählt. Es gibt immer noch Situationen, wo wir beide dasitzen und fast weinen müssen, weil sie jetzt immer bekannter wird und Aufmerksamkeit bekommt. Sie hätte sich sehr darüber gefreut.

LA

Hintergrund der Frage ist, dass die Arbeit sicherlich immens ist, ihr aber auch davon leben können müsst. Das stellen wir uns anstrengend und prekär vor, sodass man sich vielleicht freut, wenn ein Galerist vorbeikommt und sagt: Lass uns das zusammen machen.

FvW

Auf jeden Fall.

LvW

Friedrich hat schon alles ins Rollen gebracht.

FvW

Ja, ich bin wirklich auch dankbar. Katia Reich vor allen Dingen. Katia war ja bei Friedrich mehr oder weniger unsere Ansprechpartnerin. Was ja auch der große Vorteil ist, weil wir jetzt in der Berlinischen Galerie zusammenarbeiten. Wir arbeiten seit sieben Jahren zusammen, wir kennen uns, wir wissen, was wir aneinander haben und können auch so kommunizieren.

LvW

Da sind die Leute manchmal ein bisschen irritiert, weil wir schon auch mal schroff miteinander sein können, so: „Mach jetzt das und mach jetzt das!“ Wenn man sich vorstellen würde, wir würden uns erst seit einem Jahr kennen und dann an dieser Ausstellung zusammenarbeiten, das wäre nicht möglich, so vertraut miteinander umzugehen. 

FvW

Aber nein, ich bin auf jeden Fall sehr dankbar. Ich hätte das, was die Galerie geleistet hat, so niemals leisten können. Friedrich hat wirklich im richtigen Moment angerufen. Und Ostkreuz hätte diese Arbeit auch nicht leisten können. Das ist eine Agentur, die machen das Tagesgeschäft. Die versuchen zwar immer mal wieder Kunst zu verkaufen, es funktioniert aber anders. Und mit Friedrich Loock und seiner Galerie und mit Katia Reich sind dann schon Türen aufgegangen. Dass Sibylle jetzt in der Sammlung des MoMA ist, sogar in einer Dauerausstellung hängt, ist ihnen zu verdanken. Dass eine Arbeit in der Tate Modern in London hängt, ist Katia zu verdanken. Nein, ich bin wirklich dankbar. 

LvW

In die Arbeit fließt sehr viel Herzblut. Friedrich hat mich ein bisschen bezahlt. Frieda hat mich ein bisschen bezahlt. Aber wir haben auch viel umsonst gearbeitet.

FvW

Diese Arbeit wird aus dem Erlös von Verkäufen finanziert. Das hat allerdings zur Folge, dass auch ein bisschen die Sahne abgeschöpft ist. 

LA

Wie ist es denn so mit den Verkäufen? Habt ihr dafür Sorge getragen, dass zum Beispiel immer ein Original bleibt?

FvW

 Ja, natürlich.

LA

Oder ist es eher so, dass ihr auch gesagt habt: Okay, wir haben das Negativ, wir haben den Scan, wir haben die Daten aufbereitet und können damit arbeiten.

FvW

Das ist total schwierig. Die Antwort müsste lang ausfallen. Artist Prints haben wir nur bei den Auflagen, die wir posthum herstellen. Also es gibt Originale, Vintage-Prints, aber da waren von vornherein nicht viele da. Von denen haben wir posthum Prints gemacht, acht plus zwei APs.

LA

 Also Wiederauflagen. 

FvW

Und da ist ganz klar, dass diese plus zwei im Haus bleiben. Es gibt ein Motiv, das ist schon ausverkauft. Da gibt es nur noch diese beiden Bilder. Wenn jetzt ein tolles Museum kommt und sagt, es möchte genau das, dann kriegen sie es, vielleicht …

LvW

Ich glaube, was noch viel wichtiger oder interessanter ist, wenn wir über ihre Vergrößerungen reden, dass wir eben die Künstlerin nicht mehr haben. Da Sibylle nicht mehr lebt, ist es für uns ja noch viel wichtiger mindestens ein Referenzbild zu haben. Wenn ich jetzt Künstlerin bin und ich lebe noch und da ist ein Bild und ich möchte das in einem Katalog haben, weiß ich ja genau, wie es im Katalog dargestellt sein soll. Wir müssen uns aber auf das verlassen, was wir haben, und allein deswegen brauchen wir das Referenzbild. Ich bin da ein bisschen zwiespältig mit dem „Wenn dann das Museum kommt, dann geht es raus“, weil es am Ende dann irgendwo im Museum ist und wir nicht mehr damit arbeiten können.

FvW

 Ich bin damit auch zwiespältig. Es kommt wie gesagt immer darauf an, es kommt auf das Bild an, es kommt auch auf das Museum an. 

LA

Es kommt vielleicht auch darauf an, was dafür geboten wird, für wie viel es verkauft wird. 

FvW

Davon mal ganz abgesehen. Also wenn ich so ein Bild hergebe, dann muss es Sinn machen, sonst muss ich es nicht hergeben. Also auch wirklich monetär. Und dann ist es auch die Frage: Wer fragt? Die Bilder, die in der Ausstellung in der Berlinischen hängen, sind fast alles Referenzbilder. Das heißt, die sind fast alle unverkäuflich. Die sind von Sibylle entweder mit drei Kreuzen gekennzeichnet oder mit einem roten Punkt auf der Rückseite. Da wissen wir, dass es Referenzbilder sind. So muss ein Bild aussehen. Wenn wir posthume Prints machen, ist das ganz schwierig, wenn wir das vom Negativ machen wollen. Es gibt niemanden, der so vergrößern kann wie sie. Auch das Papier funktioniert so nicht mehr. Wir haben jetzt ein paar kleine Vergrößerungen von diesen ersten gesichteten Filmen machen lassen, die da in der Ausstellung hängen. Die hat André Kirchner gemacht, sie sind nah dran, aber eben nur nah dran. Und sie sind halt klein. 

LvW

Aber schon sehr gut.

FvW

Die sind sehr gut, aber …

LvW

Die sind schon wirklich sehr nah dran.

FvW

Die Ausstellung, für die wir auch in Sofia waren, tourt nicht mehr mit den Originalen. Als problematisch könnte man hier empfinden, dass wir die Originale dupliziert haben, allerdings nicht vom Negativ. Nicht zuletzt deshalb, weil ich gar nicht alle Negative auf Anhieb finden würde, und mir diese Arbeit auch kein Mensch bezahlen würde. Also haben wir in enger Zusammenarbeit mit dem ifa diese 138 Bilder eins zu eins scannen und dann davon sehr gute Archival Pigment Prints machen lassen. Kunsthistoriker*innen würden sagen: Das könnt ihr so nicht machen. Es ist aber wirklich die einzige Möglichkeit, diese Ausstellung mit Bildern zu zeigen, die so aussehen, wie sie wollte, dass sie aussehen. 

LA

Was sagen denn die Kunsthistoriker*innen? 

FvW

Die Kunsthistoriker*innen sagen, wir müssen das natürlich von den Negativen machen lassen. Ist ja gar nicht möglich. Geht nicht. Dann gibt es diese Ausstellung nicht mehr.

LA

Vielleicht würde das eher ein Restaurator oder eine Kuratorin sagen. Kunsthistoriker*innen kämen doch vielleicht gar nicht auf die Idee, ein Vintage reproduzieren zu wollen.

LvW

Ich glaube, das ist das Interessante an Fotografie oder an fotografischen Archiven: Jeder Fotograf, jede Fotografin ist so unglaublich eigen, was die Prints angeht. Natürlich ist die Fotografie auch ein Handwerk, aber genau dieses Handwerk muss ich wie einen Pinsel beherrschen. Und da war Sibylle unglaublich eigen, was die Farben oder Tonalität angeht, auch im Schwarz-Weißen. Was da weggewedelt wurde. Wie da in der Dunkelkammer gearbeitet wurde. Was ich auch erst sehen lernen musste. Ich kenne die ganzen Bilder natürlich aus meiner Kindheit und Jugend. Und habe erst nach und nach verstanden. Die Bilder von ihr sind einfach sehr persönlich variiert. 

FvW

Die Bilder so hinzubekommen, wie zum Beispiel ihre Vintage-Abzüge aus Ende der 1970er-Jahre, das geht heute gar nicht mehr. Allein die Papiere existieren nicht mehr und so weiter. Die einzige Möglichkeit, sie so zu zeigen, wie Sibylle es wollte, ist, sie zu scannen und eins zu eins auszudrucken.

LA

Diese Vintage-Prints haben sich im Laufe der Jahrzehnte aber auch verändert. Welche Anmutung will man dann eigentlich herstellen, wenn man wieder reprintet? Was tust du da? 

LvW

Das ist bei uns ein Riesenproblem.  

FvW

Und bei Farbe noch mal ein ganz anderes Thema. 

LA

Heute werden ja, wie ich gehört habe, im Labor Papiere kurz vorbelichtet, damit die Bilder eine Anmutung von leicht gealterten Prints bekommen. Damit sie zum Beispiel mit anderen, dazugehörenden Vintage-Bildern funktionieren. 

FvW

Da frage ich mich aber, was der Fake soll. Es gibt ja noch die Möglichkeit, dass man von diesem guten Original ein Repro macht. Dann hat man ein Negativ und macht von diesem Negativ neue Vergrößerungen. Dann ist das Bild immerhin mit Licht geschrieben und nicht mit Farbe gedruckt. Das ist jetzt die nächste Überlegung, da ist inzwischen die Technik relativ weit. Das war vor fünf Jahren aber noch nicht so. 

LA

Es gehört also zu eurem Alltag, dass ihr euch Fragen stellen müsst, wie Prints wiederhergestellt werden können.

LvW

Oder eher, wie wir sie für die Zukunft sichern? Wir fragen uns natürlich, was passiert mit Sibylles Archiv, bleibt es wirklich immer in unseren Händen? Was passiert damit?

LA

Noch mal kurz zurück zu den Neuauflagen, acht plus zwei. Printet ihr dann die gesamte Auflage immer durch oder macht ihr das nach Bedarf? 

FvW

Unterschiedlich. Bei den ersten, von denen wir die Vergrößerungen wirklich vom Negativ gemacht haben, haben wir tatsächlich gleich alle zehn geprintet.

LvW

So muss es eigentlich auch gemacht werden.

FvW

Ja, damit die Arbeit wirklich aus einem Guss ist. Am nächsten Tag hast du schlechte Laune, und dann sehen die Bilder schon anders aus. Oder du hast super Laune, und dann sehen sie auch anders aus. Eine ganz andere Nummer war eben die ifa-Tournee-Ausstellung, die gerade in Sofia eröffnet wurde.

LvW

Da hängen Ausstellungsprints. Das ist die Ausstellung, die Sibylle selber noch konzipiert hat und die 2006 in der Akademie der Künste gezeigt wurde.5 Von da aus ging die Ausstellung auf Reisen. Die gesamte Ausstellung gehört inzwischen dem ifa. Davor sind ihre Vintages durch die Welt geflogen.

FvW

In Vietnam ist dann auch mal ein Bild nass geworden. Für den Schaden haben wir tausend Mark gekriegt, nee, tausend Euro. In dem Moment habe ich gesagt: Ich möchte nicht mehr, dass die Bilder in Mexiko hängen oder so. Mal ist es heiß, mal kalt. Die Bilder waren zum Beispiel auch einmal hundert Kilometer nördlich von Fukushima. In China wurden sie dann getestet. Zum Glück waren sie nicht radioaktiv. 

LvW

Das hätte ja auch passieren können, dann wäre die ganze Ausstellung nach ihrem Tod einfach weg gewesen. 

FvW

An dem Punkt haben wir gesagt: Wir schicken ab sofort nur noch Duplikate. Das ifa hat diese Duplikate alle bezahlt, ihnen gehört nun auch die Ausstellung. 

LA

Wer hat diese Ausstellung kuratiert? 

FvW

Die hat Sibylle noch selbst konzipiert.

LvW

Wir waren jetzt schon sehr oft an den verschiedenen Stationen, und es heißt immer noch: kuratiert von Sibylle Bergemann, Renate Schubert, Betty Fink und Franziska Schmidt. Die Leute sind immer irritiert, warum wir dann da stehen oder wer jetzt die Kuratorinnen sind. Es ist ja so: Die Ausstellung ist zwar von Sibylle konzipiert, aber nicht in dem Sinne kuratiert. Wenn wir also die Arbeiten jeweils vor Ort im Raum hängen und entscheiden, wie die Dinge zusammenkommen, sind wir in dem Moment zumindest die Kuratorinnen vor Ort. 

LA

Seid ihr denn zufrieden mit den Print-Ergebnissen?

FvW

Ja total. Wenn man so von der Seite guckt, sieht man natürlich, dass es Drucke sind und keine Originale. Aber wenn die Bilder nebeneinanderliegen, dann siehst du keinen Unterschied. 

LA

Und wo befinden sich die Originale? Bei euch?

LvW

Ja, und das ist auch schön. Diese Ausstellung darf man eigentlich auch nicht anrühren. Sie ist ja ein Schatz. Denn: Das sind Bilder, die sie ausgesucht und zum großen Teil auch extra für diese Ausstellung neu vergrößert hat. So sollten sie der Welt gezeigt werden. Das sind Bilder, die wir nicht hergeben können. Wir haben ja nichts anderes. Wir haben nicht mehr den Kopf der Künstlerin, der sagt: Ja, das kann weg oder darf gezeigt werden. 

FvW

Und je mehr man sieht, desto mehr verliert man auch die Gewissheit. Manchmal bin ich mir dann nicht mehr sicher, welcher der schönste Abzug ist. Dann muss ich noch mal die Augen zumachen, nochmal rausgehen. Wenn man dann zurückkommt, weiß man es wieder.

LvW

Es ist sehr beruhigend, wenn fünf motivisch identische Bilder daliegen und wir schauen und sagen: Ja, das ist es. Und dann drehen wir das Bild um und da ist dann auch der rote Punkt. Es ist sehr beruhigend, dass wir anscheinend schon ihre Augen und ihren Blick bekommen haben. Nicht jedes Mal umzudrehen und zu denken … oh!

FvW

Das passiert aber auch, im Sinne von: Guck mal, das hier ist signiert, aber das kann sie nicht gemeint haben.

LA

Bei einem unserer ersten Gespräche, mit Ulrich Wüst, war interessant zu hören, wie auch er sich Fragen nach Wiederabdruck oder neuen Prints stellt oder mit diesen Fragen einen Umgang finden muss. Er sagte, er wüsste gar nicht, in welchen Museen Arbeiten von ihm seien. Zu DDR-Zeiten sei die Frage nach Auflagen nicht so relevant gewesen. 

FvW

Nee, eben. Und so gibt es von manchen Bildern Berge und von manchen gar keinen Abzug mehr.

LA

Wüst meinte, er hätte sich schon des Öfteren an die einzelnen Museen gewandt und gefragt, ob sie ihm eine Aufstellung schicken können, was eigentlich von ihm da ist. Die würde er aber nicht bekommen. Entweder gibt es sie nicht oder es kümmert sich niemand darum. 

FvW

Das wundert mich ehrlich gesagt nicht. Da bin ich auch der Galerie dankbar. Die fangen an zu graben und haben dann wirklich auch manchmal Sachen wieder ausgebuddelt. Ich weiß ja auch, dass sowohl Sibylle als auch Arno großzügig verschenkt haben. Friedrich fing dann an, auf den Auktionen Bilder zu kaufen, weil er meinte, den Markt bereinigen zu müssen. Vergiss es. Sibylle und Arno haben wirklich viel verschenkt. Inzwischen kauft Friedrich auch nicht mehr jedes Bild, sondern wählt aus. Das schaffst du nicht. Und natürlich sind da auch Bilder dabei, die Frau Müller bekommen hat, weil sie abgebildet ist, und nicht, weil es ein schönes Foto ist. Die muss die Galerie wirklich nicht zurückkaufen. Natürlich sind das manchmal signierte, schöne Abzüge, aber zumeist nicht der Teil des Œuvres, der unbedingt gesichert werden muss.

LA

 Ihr konzentriert euch lieber auf das Archiv und sucht nach einer guten Rekonstruktion des künstlerischen Ausdruckswillens. 

FvW

Genau, sichern und sortieren. Und jetzt haben wir ja eine Förderung erhalten.6 Damit wird endlich möglich, hier im Haus ein Werkverzeichnis zu erstellen. Wir werden also die Daten von Friedrich importieren, um darauf aufbauend unser eigenes System zu entwickeln. Ich möchte einfach gerne unabhängig sein. Ziel ist es, einen Überblick zu haben und das Werk eigenständig verwalten zu können, sodass am Ende auch Ostkreuz die Bilder von uns bekommt. Damit wir wissen, die Bilder, die wir rausgeben, sind sauber ausgefleckt und haben eine Tonigkeit, die den Referenzbildern entspricht und so weiter.

LvW

Unser Blick aufs Archiv und seine Bedeutung hat sich grundsätzlich verändert. Wir sitzen hier und reden über diese Fragen – und allein das hat schon auch auf uns und unseren Umgang mit dem Archiv abgefärbt. Durch Friedrich waren wir bisher mehr auf dem Fotografiemarkt unterwegs und haben mit Fotografie auf einer anderen Ebene zu tun gehabt. Diese Ausstellungen nach Sibylles Tod erfordern einfach, dass der Nachlass weiter aufbereitet wird und dass eine Archivstruktur gefunden werden muss. Davor, als Sibylle noch gelebt hat, war sie an den Ausstellungen direkt beteiligt, hat vielleicht Bilder für die jeweilige Ausstellung gemacht. Wir hingegen standen vor geraumer Zeit an einem Punkt, an dem uns klar wurde, dass es ohne Archiv nicht funktioniert und auch nicht ohne Werkverzeichnung und Chronologie. 

LA

Ja, wir müssen uns damit konfrontieren, dass gerade diejenigen Künstler*innen und Fotograf*innen, die ganz maßgeblich dazu beigetragen haben, dass wir Fotografie überhaupt als künstlerisches Medium anerkennen, jetzt einfach sterben, oder im Falle von Sibylle Bergemann schon gestorben sind. Da gibt es eine neue Dringlichkeit.

FvW

Ich glaube, dass der Tod von Sibylle bei Ostkreuz tatsächlich einen Schock ausgelöst hat. Die arbeiten seitdem alle anders mit ihren Archiven. Auch was Ute und Werner Mahler machen, ist – glaube ich – ein Resultat aus dem Schreck über Sibylles Tod, zum Beispiel signieren sie jetzt viel konsequenter. Wir haben nicht so viele signierte Bilder. Helga Paris hat sich irgendwann hingesetzt und ihr ganzes Archivmaterial signiert. Zumindest was diesen Kreis an Fotografinnen und Fotografen betrifft, haben alle einen Schreck bekommen und arbeiten seitdem wirklich anders mit ihrem Material. 

LA

Analoge Archive organisieren sich ja auch nicht von allein, so wie das vielleicht ein digitales Archiv auf dem Handy tut – das organisiert sich ja automatisch nach Datum, Orten und Gesichtern. All das trifft auf ein analoges Archiv nicht zu. Aber es war eine Zeit lang vielleicht auch überhaupt nicht angesagt oder das Bewusstsein dafür da. Wir haben auch ein Gespräch mit der Modefotografin Elfi Semotan geführt, in Wien. Sie ist jetzt 80 geworden. Die erste größere institutionelle Einzelausstellung gab es für sie erst zu diesem Zeitpunkt ihres Lebens. Dieser Umstand hat ihr deutlich gemacht, dass sie sich mehr als nur einen Überblick verschaffen muss und jetzt der Moment da ist, an dem sie festlegen kann, wie nachfolgende Generationen auf das Werk blicken. Ihr Archiv erhält also plötzlich eine andere Relevanz. Wenn ihr das Archiv in eure Hände nehmt und das ganze Werk von Sibylle in der nahen Zukunft verwalten wollt, bedeutet das doch auch, dass sich eure Archivarbeit irgendwann vielleicht auch monetär auszahlt. Denn ihr könnt ja, und so wird es ja wahrscheinlich jetzt auch gehandhabt, wenn Anfragen nach Abbildungen kommen, einen Betrag dafür nehmen, oder?

FvW

Diese Anfragen bearbeitet die Agentur Ostkreuz jetzt schon. Das ganz normale Tagesgeschäft aber wird dort natürlich weniger, weil es keine aktuellen Bilder mehr gibt. Je mehr Zeit vergeht, desto wichtiger wird mir, dass das, was über die Agentur rausgeht, eine gute Qualität hat. Wobei vieles von Ostkreuz wirklich gut ist. Aber manchmal habe ich mich schon erschrocken. Dann muss ich nochmal ausflecken, weil eigentlich kein unausgeflecktes Bild von Sibylle rausging. Und wenn man mal zwei Bilder nebeneinander sieht, ein ausgeflecktes und ein nicht ausgeflecktes, dann weiß man auch warum. 

Was mir jetzt gerade einfällt: Ob sie sich bewusst war, eine wichtige Fotografin zu sein … Ich glaube, sie war einfach auch sehr bescheiden. So wie sie in dem Film von Sabine Michel auch sagt: „Jetzt hat man wieder gemerkt, dass wir eigentlich gar nichts können. Wir sind eigentlich Hochstapler.”

LvW

… aber zugleich so stolz von dem einem Bild erzählt, das im MoMA hängt. Jedes Mal, wenn ich diese Szene im Film sehe7 , denke ich: „Ja und weißt du, und jetzt sind deine Bilder fest in der Sammlung des MoMA!“

FvW

Genau, damals war sie dort nur in einer temporären Ausstellung zu sehen.

LvW

Sie glaubt fast selbst nicht, dass sie wirklich im MoMA hängt. Und dieser Stolz ist ehrlich. Das war kurz bevor sie gestorben ist. Ich glaube, da war ihr schon bewusst, dass sie auf jeden Fall eine gute Fotografin ist, dass sie was Gutes macht, dass ihre Bilder ankommen. Aber ich glaube, sich bewusst darüber zu sein, dass sie wirklich irgendwann auch außerhalb von Deutschland – meiner Meinung nach natürlich nie genug – so präsent ist … 

FvW

Am Ende dann schon. Zum Beispiel wenn ich an den 60. Geburtstag von Werner Mahler denke, wo sie selbstbewusst ans Mikrofon ging und eine Rede hielt. Das hätte sie vorher so nicht gekonnt. Sie hätte sich gewunden, hätte das nicht machen wollen. Ich sagte zu ihr: „Das musst du nicht tun.“ Und sie: „Doch doch, ich will das.“ Das Selbstbewusstsein war gewachsen. 

LA

Könnt ihr mit dem Estate Sibylle Bergemann eure Existenz sichern?

FvW

Ich lebe inzwischen von dem Archiv, muss davon leben – auch, weil ich gar keine Zeit mehr habe, meine eigenen Sachen zu machen. Das hat Vorteile und Nachteile. Es ernährt mich aber. Und es ernährt auch ein bisschen das Kind, aber wenig. Es bleibt schwierig. Aber am Ende ist zumindest meist was da. Ich hoffe einfach weiter. Alles, was ich bis jetzt an unbezahlter Arbeit gemacht habe, was ich nicht verdient habe, wurde am Ende über Verkäufe wieder in die Waage gebracht.

LvW

Wir sind durch die Geschehnisse, wie jetzt eben dieser Förderung vom Kunstfonds, auch in der Verantwortung. Jetzt ist Geld da, um das Archiv aufzuarbeiten und ein Werkverzeichnis anzulegen. Was im Umkehrschluss heißt, wenn in einem Jahr das Geld nicht mehr da ist, um weiterzuarbeiten, haben wir immerhin ein Archiv, auf das anders zurückgegriffen werden kann. Frieda kann dann, wenn ein Bild gebraucht wird, theoretisch zum Regal gehen, das Bild rausnehmen und damit arbeiten. Es wird noch lange dauern, bis das wirklich so ist, aber es ist ein Anfang. Ich kann ja zum Glück von der Förderung tatsächlich bezahlt werden, Frieda nicht. 

FvW

Ja, Lily kann endlich mal für ihre Arbeit bezahlt werden. Wir hoffen, einen intelligenten Anfang zu finden. Wir waren auch noch mal bei Ute und Werner Mahler und haben uns angeschaut, wie sie es handhaben und werden auch mit Art Record arbeiten.8 Wir hatten ursprünglich was anderes im Sinn. 

LA

Art Record ist ein Programm? 

FvW

Genau.

LvW

Funktioniert ein bisschen wie FileMaker, aber online. Das ist ein ganz simples System. Deswegen macht es auch Spaß und deswegen ist es auch gut. Es ist nicht kompliziert, aber trotzdem ästhetisch. 

FvW

Man kann von jedem Ort der Welt daran arbeiten. 

LA

Ihr habt offensichtlich eine Konstruktion gefunden, dass eine von euch den Antrag beim Kunstfond gestellt hat, sodass die Arbeit der anderen davon bezahlt werden kann.

LvW

Den Antrag darfst du nur als Inhaberin des Werkes stellen. Ich habe das Werk ja nicht geerbt, es gehört alles Frieda. Daher kann ich mit dem Werk arbeiten und mit dieser Arbeit Geld verdienen. 

LA

Hättet ihr auch mit eurem Verein den Antrag stellen können?

FvW

Eben nicht. Total bescheuert. Im Land Brandenburg gibt es Digitalisierungsförderungen, die anfangs sogar relativ hoch dotiert waren.Wir haben uns zweimal vergeblich beworben, ein drittes Mal nicht mehr. Ich empfand und empfinde es immer noch wirklich als Armutszeugnis für das Land Brandenburg, dass Sibylle Bergemann hier keine Förderung erhält. Das geht gar nicht. Das Land Brandenburg hat uns ja sogar noch beraten! Daraufhin haben wir einen Verein gegründet und uns mit Anträgen rumgeschlagen, die dann nicht bewilligt wurden. Bis jetzt hat sich alles, was wir in den letzten zehn Jahren gemacht haben, aus sich selbst finanziert. Lange habe ich nichts erwartet. Aber inzwischen ist Sibylle Bergemann wirklich eine der großen Fotografinnen des Landes. Das kann man auch mal unterstützen. Durch den Kunstfonds erfahren wir jetzt ja auch eine Unterstützung. Ich habe nicht daran geglaubt.

LvW

Dieser ganze Antrag für das Land Brandenburg war einfach nur furchtbar. Ich habe mit Katia fast ein halbes Jahr daran gesessen. Wir sind zu dritt dafür rumgefahren, waren in Potsdam, haben uns da beraten lassen. Die Ministerin war bei der Ausstellungseröffnung hier auf dem Land …

FvW

… und hat uns empfohlen. Bei einem Termin mit der Ministerin haben wir mit ihr an einem Tisch gesessen und sind außerdem zu ihrer Digitalisierungsbeauftragten an die Uni Potsdam gefahren. Wir haben wirklich alles gemacht. Ja und am Ende… das ist schon schräg.

LvW

Gestern habe ich wieder zwei Mal gesagt, dass wir diesen Verein bitte einfach wieder auflösen sollten, weil er einfach keinen Sinn ergibt. Er macht nur lästige Arbeit. Eigentlich ist es schade, so etwas zu sagen, denn jetzt, wo der Verein gegründet ist, könnte man damit ja auch viel machen.

FvW

 Ich bin so bürokratiemüde. Ich bin nicht diejenige, die sowas organisieren will. Es wäre schon großartig, wenn es irgendwo eine Instanz gäbe, wo man zum Beispiel Informationen bekommt, wo und wie man Förderungen für Archivierungen bekommt oder was die Programme sind, die sich dafür eignen etc.

LvW

Wenn ich jetzt ans Fotoinstitut denke und Programme wie Art Record, denke ich: Warum gibt es so etwas nicht einfach mal umsonst für eingetragene Künstler*innen? Wenn du in der Künstlersozialkasse Mitglied bist, muss doch so eine Unterstützung möglich sein. 

FvW

Diese Programme kosten ja auch Geld, da entstehen fortlaufende Kosten.

LvW

Genau, sie sind eben kostenpflichtig. Und sie sind nicht wirklich auf das Medium abgestimmt. Wenn ich mir vorstelle, es gäbe zum Beispiel eine Liste, wo dann steht: KB ist Kleinbild, MF ist Mittelformat, die ganzen Kürzel. Wenn es so eine Vereinheitlichung gäbe, so etwas wie ein Archiv-Wörterbuch für Fotografie …

FvW

… sodass nicht jede*r, die*der so einen Nachlass erbt, ins kalte Wasser springen muss.

LvW

Nicht nur als Erbe, auch als Künstlerin oder Künstler selbst, stehst du vor Riesenproblemen. Ich kriege das ja auch an der Uni mit. Die Studierenden sind ja schon am Anfang ihrer Karriere mit diesen Fragen konfrontiert: Wie fange ich überhaupt an? Wie ordne ich mein Zeug? Wenn ich mir vorstelle, ich könnte von Anfang an auf irgendwas zurückgreifen …

FvW

… auf einen Leitfaden, der dann auch gewährleistet, dass Archive halbwegs gleich oder ähnlich aufgebaut sind. Es würde Sinn machen, dass man nicht bei jedem Archiv neu überlegen muss, wie mache ich es, wie mache ich es intelligent? Sondern dass es etwas gibt, worauf man zurückgreifen kann, wo man sagen kann: Leute, das ist hier eine wunderbare Archivierungssoftware für Fotografie, wo man für jedes einzelne Bild die fünf oder zwölf oder 22 einzelnen Vergrößerungen durchnummeriert hinten dranhängen kann. Das funktioniert bei den Programmen leider nur bedingt. Es könnte speziell für Fotografie noch bessere Features bieten. Es wundert mich auch, dass es das offenbar noch nicht gibt.

LvW

Mich wundert das eigentlich nicht. Es gibt zum Beispiel diese ganzen Handbücher für Kunstrestaurierungen. Der Fotografiebeitrag kam erst vor ein paar Jahren dazu. Das sind Bücher, die gibt es für die Kunst seit 1900? Wir haben jetzt 2022, und erst in den letzten Jahren wurde die Fotografie eingeführt. Mein Studiengang (Photography Studies and Research an der Folkwang Universität der Künste Essen) ist der einzige Studiengang im deutschsprachigen Raum, der sich explizit auf die Fotohistorie konzentriert. Da wundert es mich nicht, dass diese ganzen Programme nicht auf Fotografie ausgelegt sind.

LA

Von einem Institut für Fotografie würdet ihr euch wünschen, dass es eine Art beratende Instanz gibt, an die man sich wenden und Fragen stellen kann?

FvW

Ja, etwa zur Digitalisierung: Was schlagt ihr vor? Scannen? Wenn ja, was braucht man für Scanner? Wie groß muss der sein? Es muss doch nicht jede und jeder aufs Neue recherchieren, was funktioniert. Das kostet so viel Zeit!

LvW

Es muss vielleicht keine direkte Ansprechpartnerin oder Ansprechpartner geben, aber vielleicht eine Rubrik. Sagen wir mal, das Fotoinstitut hätte eine Internetseite und es gäbe eine Rubrik, die heißt Archiv oder Werkverzeichnis. Dort wird meinetwegen eine Kamera empfohlen, die am besten zur Reproduktion geeignet ist. Da sind außerdem drei Verlinkungen zu Artikeln zu aktuellen Restaurierungstechniken und da sind drei Programme zu Formen der Archivierung oder Erstellung eines Werkverzeichnisses aufgelistet. Das wäre schon so hilfreich.

FvW

Gib mir einen Tipp, wie ich den Weg abkürzen kann, dass ich mich nicht durch diese ganzen Möglichkeiten durchkämpfen muss.

LvW

Es gibt tatsächlich Kleinigkeiten, die hilfreich sein könnten.

LA

Wir haben uns mit Hans Hansen unterhalten, der gut finden würde, wenn ein Institut auch Auskunft geben könnte über Techniken, die im Verschwinden begriffen sind. Er erzählte, dass in Japan Meister ihres jeweiligen Fachs sorgenfrei gehalten werden, damit sie ihr Wissen um bestimmte Anwendungen weitergeben können. Die Künstlerin Beate Gütschow wiederum meinte, sehr viele Künstlerinnen würden gerade Stiftungen gründen wollen. Jede Künstlerin und jeder Künstler, der*die so etwas machen wollen würde, müsste sich da komplett einarbeiten und das sei kompliziert. Und auch in so einem Fall, bei Stiftungsgründungen, wäre es sinnvoll, wenn ein Institut einem dabei helfen könnte. Warum ist der Estate Sibylle Bergmann keine Stiftung?

FvW

Das ist eine Geldfrage. 

LA

Jemand müsste Geld reinstecken. 

FvW

Ich bleibe gerne unabhängig, bis zu einem bestimmten Punkt. Irgendwann, wenn wir hier halbwegs durch sind – keine Ahnung, ich muss echt alt werden –, kann man überlegen, wo man dieses Archiv hingibt, ob man dann auch irgendwann die Negative einer Institution schenkt.

LA

Du sagst automatisch schenken? 

FvW

Die Negative ja, natürlich. Ich möchte ja aber auch nicht, wenn ich die jetzt hergebe, dass dann irgendwann irgendjemand daherkommt und sagt: „Mensch, guck mal, das ist ja toll. Lass uns davon mal noch ein paar Bilder machen.“ Das darf nicht passieren. Wir müssen diejenigen sein, die jetzt aus diesem Wust bestimmen, was es ist. 

LA

Das heißt, ihr generiert die Struktur, die Archivstruktur. Da wird aber auch gleichzeitig festgelegt: Aus diesem Konvolut darf nichts neu aufgelegt werden. Heidi Specker hat in unserem Gespräch mit der Künstlerin Annette Kelm gesagt: Stell dir deine Arbeit in 100 Jahren im MoMA vor. Wärst du einverstanden, dass deine Arbeit dort als Hologramm auftaucht? 

FvW

Vielleicht würde ich das ja sogar cool finden, als Hologramm. Aber das ist so schwierig zu entscheiden: Was lasse ich zu, was nicht? Und solange wir das Werk verwalten, müssen wir überlegen, was wir wohin geben, was wir vernichten und so weiter.

LA

In der von der Staatsministerin für Kultur und Medien beauftragten Machbarkeitsstudie, die auf dem Konzept der Gruppe rund um Thomas Weski basiert, steht, dass es „im Regelfall“ um Schenkungen gehen soll.9

FvW

Das finde ich legitim. Die Krux ist: Dann, wenn es funktioniert, soll man es hergeben.

LA

Klar, das Haus hier hättet ihr ja auch vermieten und Mieteinnahmen generieren können und den Nachlass – wenn es institutionelles Interesse daran gibt – ungeordnet in Kisten übergeben können. Stattdessen arbeitet ihr den Nachlass weitgehend unentgeltlich auf und etabliert ein Archiv. Dadurch habt ihr zwar die Kontrolle darüber, was vielleicht irgendwann raus in die Öffentlichkeit geht, aber der Preis ist hoch.

FvW

Die Zeitfrage ist etwas, was mich stocken lässt. Wenn in 100 Jahren Leute noch mal drüber gucken und Sachen finden, die großartig sind, kann ich denen ja nicht absprechen, dass sie nicht auch einen guten Draht zu den Bildern haben.

LA

Unser Bild von Geschichte wird sich dann ja auch nochmal verändert haben oder unser Bild von Deutschland oder speziell dieser Zeit.

FvW

In meinem Archiv ist es ja auch oft so, dass ich erst nach 20, 30 Jahren dieses Bild als Bild sehe.

LA

… die Qualität dieses Bild.

FvW

Genau. Und das ist bei Sibylle ja auch so. Was wir jetzt da gesichtet haben: Ob Sibylle das 1966 auch schon so als Bild empfunden hätte, wissen wir nicht. Ja, es ist schwierig. Man darf nicht die Tür zuschlagen, dass in hundert Jahren noch mal Sachen anders gesehen werden.

LA

Man kennt aus der Literatur, dass es bestimmte Verjährungsfristen gibt, bis etwas veröffentlicht werden darf, was zuvor privat war – Briefe zum Beispiel.

LvW

Zu Lyonel Feiniger kam 2021 ein Buch raus, wie er mit seiner Freundin Julia Briefe geschrieben hat. Aber kann der Grund für eine solche Veröffentlichung schlicht sein, dass es dafür einen Markt gibt? Berechtigt der mich, in Briefe zu gucken, die zwei Menschen ganz privat geschrieben haben? Darf ich das? Ich bin da zwiegespalten.

FvW

Würde ich Briefe von Sibylle finden, würde ich die mit Lily durchlesen und dann ab damit in den Ofen. Wir haben neulich was gefunden, das werden wir demnächst auch vernichten, glaube ich, ja. 

LvW

Da ist dann wieder die Kunsthistorikerin in mir, die denkt: Meine Güte, wenn jemand in 100 Jahren diese Postkarte findet! Sibylle lebt nicht mehr. Es ist aber sehr spannend und wichtig, um sie mit dem, was auf der Karte steht, wieder zu verstehen, und auch, um sie der Zeit, ihrer Zeit, zuzuordnen. 

LA

Das führt zu der Frage: Was gehört eigentlich alles zum Archiv? Sind es tatsächlich nur die Negative, die Positive? Oder sind es auch die Bücher, Briefe etc.?

FvW

Zum Glück hat lange keiner mehr danach gefragt. Nach von ihr geschriebenen Rechnungen zum Beispiel. Es ist sicher spannend, dass sie zu DDR-Zeiten 75 Ostmark für ein Sibylle-Cover bekommen hat. Ich habe aber leider noch keine Rechnungen gefunden, die würde ich aufheben. 

LA

Wollen wir dann mal ins Archiv schauen gehen?

FvW

 … was das für ein Raum war, wie der vorher aussah, will auch keiner wissen …

LA

Ihr habt doch in dem Talk bei Ostkreuz Bilder von dem Raum vor der Renovierung gezeigt.10 Erinnere ich mich richtig? Schweinestall?

FvW

Inklusive Mäusehotel.

LvW

Ohne Fenster. 

FvW

Ja, das Fenster gab es vorher nicht. Es gab nur kleine Öffnungen, damit die Schränke drunter passen. Das hätte ich auf Dauer doof gefunden. Und jetzt gibt es Fenster und diese Schubladen hier. 

LA

Ihr habt richtig investiert? 

FvW

Ja, hier steckt wirklich viel Geld drin. Die Archivschränke sind auch alle nagelneu. Und da ist jetzt auch drin, was draufsteht.

LA

„Berlin“, „Neubau“, „Industrie“ … Das heißt, hier ist das Positiv-Archiv?

FvW

Ja, und in den Regalen sind die Negative. 

LvW

Das sind jetzt welche, die wir aufgearbeitet haben. Die Negative sind hier jetzt sehr schön drin, haben alle Nummern und sind digitalisiert. Die Kisten sind gut, aber dann hört es irgendwann auf.

LA

Was heißt irgendwann?

FvW

Nach 7000. Zu diesem Zeitpunkt, 1990, hat sich Ostkreuz gegründet. Und 1990 hat Sibylle angefangen, neu zu nummerieren, immer mit Jahreszahlen. Was einerseits gut ist, aber man kann nicht mehr automatisch durchzählen. Bis zur Wende waren es um die 7000 Filme. Ich habe bis heute nicht alle Bilder in der Hand gehabt. Sachen, die nicht interessant sind oder waren oder bisher noch nicht angefragt wurden. „Weigel Gedenkstätte“ zum Beispiel wurde noch nie angefragt. In die Schachtel habe ich noch nie reingeschaut.

LA

Dabei sieht sie verheißungsvoll aus. 

FvW

Es gibt ein Buch über die Weigel Gedenkstätte.11 Dem muss ich dann ja auch nicht unbedingt was hinzufügen. So. Oder auch beim Denkmal.12 Da haben wir jetzt ganz dezent noch mal geguckt. Denn ich habe lange gedacht, dass ich mich da nicht einmischen muss. Sibylle hat aus diesem Konvolut aus 11, 12 Jahren 13, 14 Bilder rausgenommen. Also die Essenz. Da fange ich jetzt nicht an rumzufrickeln. Das steht mir nicht zu. Inzwischen sind wir einen Schritt weiter. Lass uns mal gucken. 

LA

Wird die Ausstellung in der Berlinischen Galerie einen Schwerpunkt auf das Frühwerk haben?

FvW

Das nicht, aber sie heißt nicht Retrospektive, weil uns irgendwann klar geworden ist, dass diese Ausstellung nie im Leben eine Retrospektive sein kann. An dem Punkt sind wir noch lange nicht.

LA

Ist das deprimierend? Jetzt ist Bergemann zwölf Jahre tot. Eigentlich wäre doch jetzt wirklich die Zeit, oder?

FvW

Nein, das macht es für uns eher spannend. 

LvW

Ich sehe das mit gemischten Gefühlen. Ich glaube, nicht jede oder jeder, die oder der in die Berlinische Galerie geht, kennt Sibylle Bergmann. Wir hätten am liebsten diese ganzen Ikonen von Sibylle zur Seite gelegt, alles durchgearbeitet und einfach mal anderes Material gezeigt. Aber das geht nicht, man kann nicht dort eine Sibylle-Bergemann-Ausstellung machen, ohne dass man die typischen Sibylle-Bergemann-Bilder zeigt. Ich hätte es schon spannend gefunden, noch tiefer zu graben. Wenn Geld und Zeit da gewesen wären, wäre es ja auch gegangen. 

FvW

Es war trotzdem schon krass. Katia und die damalige Volontärin waren über fünf Monate jeweils drei Tage hintereinander hier.

LvW

Also drei Tage im Monat.

FvW

Einmal im Monat für jeweils drei Tage. Wir haben hier wirklich die Schubladen systematisch durchgeackert.

LvW

Ich bin immer von Essen hergefahren. Dadurch, dass wir Online-Unterricht hatten, habe ich teilweise oben die Uni digital besucht und bin dann wieder runter ins Archiv gerannt. Das war eigentlich eine surreale Situation. 

FvW

Corona sei Dank konnte Lily auch hier sein. Also für manches war das schon gut. 

LA

Unterscheidet ihr in der Organisation des Archivs eigentlich zwischen den freien Arbeiten und den auftragsgebundenen Arbeiten? Oder ist alles zusammen nach Jahreszahlen sortiert? Oder nach den Keywords?

FvW

Wenn eine Anfrage reinkommt, lautet die nicht: Habt ihr alle Fotos aus dem Jahr 1978? Sondern: Habt ihr Modefotos für uns? Wenn ich die Modefotos einmal aus allen Jahren zusammengesammelt habe, sortiere ich die doch im Leben nicht zurück. Dafür habe ich gar nicht die Zeit. 

LvW

Das ist der Unterschied zur Institution. Die Berlinische Galerie hat ihr Material natürlich nach Jahreszahlen sortiert. Ich hab am Anfang auch immer gesagt, dass wir nach Jahreszahlen sortieren müssen, weil ich diese Ordnung aus den Museen kenne. Aber irgendwann habe ich es eingesehen und gemerkt: Das macht für uns keinen Sinn.

FvW

Wenn man damit arbeitet, wie wir damit arbeiten. Hier gibt es zum Beispiel eine Schublade „Thalbach“. Und dann gibt es eine große Schublade „Mode, nur Sibylle“. Wobei die gerade hier liegt, weil ich sie neu sortiere. „Mädchen“ und so weiter.

LvW

Das Archiv ist tatsächlich mehr nach Ausstellungsanfragen und Verkäufen ausgerichtet. 

FvW

Es ist praktischer. Wenn ich jetzt bei „Thalbach“ bin: Ich habe dann alle Katharina-Thalbach-Bilder aus allen Jahren dabei. Ich muss jetzt nicht die Thalbach-Bilder aus jedem einzelnen Jahr raussuchen. 

LA

Elfie Semotan hat uns gesagt: Ich bin immer von Künstlern umgeben gewesen, mein ganzes Leben lang. Zugleich habe ich mit großer Freude mein ganzes Leben lang Auftragsfotografie, Modefotografie, Werbefotografie gemacht, Kampagnen und so weiter. Aber ich differenziere nicht zwischen den einzelnen Shootings, sondern es läuft einfach alles durch, egal was. Ich habe genauso gerne als Künstlerin Natur, Landschaft, Architektur fotografiert. Aber alles ist in einer langen Wurst zeitlich hintereinander abgelegt. 

FvW

Wenn das Material irgendwann digitalisiert ist, kann man es ja ganz schnell auch chronologisch sortieren. Aber zum Arbeiten eignet sich dieses System nicht. Man kann so aber auch direkt physisch sehen und begreifen, was den Anteil der Modefotografien in Sibylles Werk ausmacht. Das sind drei oder vier Schubladen. Da merkt man, dass das Œuvre sehr viel mehr umfasst als Mode. 

LA

Zum Beispiel „Weltfestspiele“, „Mutter und Kind“, „Engel“, „Thalbach“ …

FvW

„Städte“, „Orte“, „Clärchens“, „Berlin“, „Altes Berlin“, „Fenster“, „LA“, „New York“. 

LA

Stichwort Digitalisierung: Wenn alles digitalisiert ist, kann ich natürlich Suchkriterien definieren.

FvW

Das ist auch etwas, worauf ich mich freue. Das funktioniert bisher eben nur bedingt. Wenn das Werk gut verschlagwortet ist, kann ich, wenn ich will, zum Beispiel alle Bilder mit einem Schornstein raussuchen. 

LA

Sofern Schornstein als Schlagwort hinterlegt ist.

FvW

Genau, wenn das Archiv gut verschlagwortet ist.

LA

Was wären denn die entscheidenden Schlagworte? 

FvW

Manches erschließt sich ja, wenn man das Bild sieht – was wäre zum Beispiel das jetzt hier? Wie würde ich das verschlagworten? Ich würde Palme schreiben, ich würde Pink schreiben. Ich würde Strick, Klamotte, Claudia Skoda, Carlotta schreiben …

LvW

Hotel Bogota, Mädchen, Frau … 

LA

Aber du könntest natürlich auch nur Mode schreiben.

FvW

Genau, Mode muss da auch noch stehen.

LA

Wolfgang Tillmanns hat, glaube ich, nur sechs Schlagworte für alles, was er je fotografiert hat. Oder vielleicht sind es auch zehn. Aber es sind nur ganz wenige.

FvW

Wenn er damit klarkommt, ist das ja wunderbar. Ich glaube nicht, dass wir mit zehn Schlagworten auskommen. Zumal es bei den vielen Porträts ja immer auch um die Namen der Leute darauf geht. Wir haben auch ganz viele Porträts, von denen ich gar nicht weiß, wer da abgebildet ist. Es gibt zum Beispiel das eine oder andere Porträt von Männern. Die sind unspektakulär, wirklich erstaunlich: Die Frauen sehen alle toll aus und die Männer so lala. 

LA

Schlagwort: „Unspektakuläre Männer“. 

FvW

Ich muss wirklich mal rausfinden, wer die alle sind. Da freu ich mich auch drauf. 

LA

Das ist ein wichtiger Punkt. Ihr seid gerade noch Zeitzeuginnen. 

FvW

Viele kenne ich noch, aber manche eben nicht. Bei manchen habe ich mit Bleistift hinten draufgeschrieben, wer sie sind, bei manchen aber weiß ich es nicht. 

LA

Thomas Weski hat von der Arbeit im Michael-Schmidt-Archiv erzählt, dass seine erste große Tat war, zusammen mit Laura Bielau herauszufinden, wer alles auf den Fotografien abgebildet ist. Denn: In 20 Jahren weiß das kein Mensch mehr.

FvW

Natürlich, genau. So Sachen.

LvW

Wahrscheinlich braucht man zwei Verschlagwortungen: eine grobe, eine pingelige. Kategorien, Unterkategorien. 

FvW

Das sind alles so Sachen. Wir haben jetzt Laura Benz mit im Boot, die auch für Harald Hauswald lange Zeit gearbeitet hat. Sie hilft uns in den nächsten zwei, drei Monaten hier. Besser geht’s nicht, oder?

LA

Gut! Sie hat Erfahrung.

FvW

Genau, das ist super. Und man kann sie bezahlen, mit dieser Förderung. Man muss nicht dauernd sagen: „Laura, kannst du bitte und wir haben nicht und willst du vielleicht am Ende ein Bild oder so.“ Nein: Wir können ganz regulär einen Stundenlohn zahlen. Das ist großartig. 

LA

Wir haben nach unseren bisherigen Gesprächen den Eindruck, dass die DDR-Fotografen und -Fotografinnen gerade intensiver hinterher sind beim Thema Archivierung.

LvW

Weil Sibylle gestorben ist. Ich habe das Gefühl, dass im Osten die Fotografieszene enger miteinander verwachsen war oder ist. Klar gab und gibt es da auch Konkurrenz. Aber irgendwie haben sie sich anders ausgeholfen und helfen sich immer noch. Ich bin nicht so verankert in westdeutscher Fotografie, aber ich habe den Eindruck, dass die jetzt nicht so eng miteinander sind.

FvW

Da zieht jeder irgendwie am eigenen Strang.

LA

Es ist nur eine Vermutung, aber im westdeutschen Kontext scheinen mir mehr Stiftungen zu existieren. Das ist ein Hinweis darauf, dass dort insgesamt mehr Geld ist. Einige westdeutsche Fotograf*innen sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten sehr reich geworden. Das trifft natürlich längst nicht auf alle zu … aber wenn man mal die bekannten Namen aus Ost und West vergleicht. 

FvW

Als die DDR-Fotografinnen und Fotografen 1990 überhaupt mal anfangen konnten, Aufträge anzunehmen, mit denen man Geld verdienen konnte, hatte ein West-Fotograf schon ein Vermögen. Damals verdiente man ja mit Fotografie auch noch wirklich Geld. Das sagte auch Ruth Eichhorn neulich: Damals konnte man bei Geo noch Geld verdienen. Und als die im Osten 1990 damit anfingen, war das ja auch fast wieder vorbei. Da hatten andere schon ein Vermögen angehäuft. 

LvW

Vielleicht hat dieser Moment der Aufarbeitung von Archiven auch wirklich etwas mit der Anerkennung zu tun, die erst jetzt einsetzt. Um die angemessene Aufarbeitung der Fotogeschichte aus der DDR muss ja immer noch sehr gekämpft werden.

FvW

Und dann sind wir wieder bei ganz anderen Geschichten, bei Geschichtserzählung. Die wird nicht nur immer von Männern erzählt, sondern immer auch vom Westen.

LA

Der Fairness halber sei gesagt: In allen Landesteilen gibt es Fotograf*innen und Künstler*innen, die unter prekären Bedingungen arbeiten. Da kennen wir alle viele. Das sind auch oft Leute, die teilweise durchaus Sichtbarkeit haben, die also Ausstellungen haben und so weiter, die aber trotzdem von ihrer Arbeit allein nicht existieren können. Und genauso wahr ist, dass in Westdeutschland mehr Geld akkumuliert werden konnte und sich das sicherlich auch auf die Kunstszene und die Fotografie ausgewirkt hat. Deshalb kann man dort eher Stiftungsvermögen aufbauen, kann sich anders kümmern. 

FvW

Wenn ich nur jemanden fest anstellen könnte, längerfristig. Es gibt ganz viel Fleißarbeit hier zu tun, sortieren, umtüten und so weiter. Schnöde die Repros machen: Vorderseite, Rückseite, ausmessen, eintragen, um das Archiv weiter zu digitalisieren … Das braucht alles Zeit. Wenn sowas finanziert werden würde! Und wenn mit Laura Benz als unserer Mitarbeiterin jetzt für ein paar Monate ein intelligenter Anfang gemacht ist, dann wäre es einfach schön, wenn es weiterginge. Aber das ist Fleißarbeit. Ich will nicht sagen, dass uns unsere Arbeitszeit dafür zu schade ist, aber wir könnten wirklich ganz andere Sachen machen in der Zeit. 

LA

Wenn man so ein Archiv durcharbeitet, wird man natürlich auch zur Wissensträgerin und weiß ganz viel, das ist super. 

FvW

Als Lily anfing bei Loock zu digitalisieren, war ich auch dankbar dafür, dass Lily das gemacht hat, damit das Wissen in der Familie ist und bleibt.

LvW

Da gab es aber auch Chaos. Einmal kam jemand und hat einen Tag lang mitgearbeitet und meine gesamte Arbeit durcheinandergebracht. Ich habe zwei Wochen gebraucht, um wieder aufzuräumen. Aber du kannst auch nicht viel erwarten, wenn für diese Arbeit kein Geld da ist. Deshalb müssen diese Arbeit unbedingt Leute machen, die spezialisiert sind. Und da tut es mir manchmal leid, dass so viele Leute – das kriege ich ja um mich herum mit –, in unserer Branche keinen Job finden. Aber hier ist ganz viel Arbeit, die könnte super gemacht werden. Es macht Spaß. Es ist eben nicht nur Fleißarbeit, es ist auch ein wunderbarer Arbeitsplatz. Und dabei geht es ja nicht nur um uns und das Archiv von Sibylle.

FvW

Es gibt einige Leute, die hier wunderbar ihren Spaß hätten. Und die kompetent sind. In so einem Fotoinstitut gäbe es doch bestimmt auch einen Pool von Leuten, die qualifiziert sind. Und es wäre schon gut, wenn man sagen könnte: Wir haben hier ein Projekt, das euch interessieren wird. Es wäre schön, wenn jemand mit seiner ganzen Kompetenz käme und sichtet und ordnet. 

Footnotes

  • 1Sibylle Bergemann, Stadt Land Hund. Fotografien 1966–2010, Berlinische Galerie, 22.6.–10.10.2022.
  • 2OSTKREUZ ist eine Berliner Fotoagentur mit angeschlossenem Bildarchiv, die 1990 von Sibylle Bergemann mitgegründet wurde.
  • 3Sibylle Bergemann. Photographien, Sofia City Art Gallery, 1.3.–10.4.2022.
  • 4Sibylle Bergemann, Die Polaroids, Ostfildern 2011; Fenster, Berlin/Dresden 2011.
  • 5Sibylle Bergemann. Photographien, Akademie der Künste, Berlin, 11.11.2006–14.1.2007.
  • 6Stiftung Kunstfonds: https://www.kunstfonds.de/aktuelles/foerderprogramm/details/400000-euro-fuer-werkverzeichnungen-in-2021.
  • 7Take a picture. Die Fotografin Sibylle Bergemann, 43 min., Farbe, Regie: Sabine Michel, 2011.
  • 8Inzwischen arbeiten Frieda und Lily von Wild mit dem Programm Art Butler (Nachtrag vom 14. September 2022).  
  • 9Vgl. Machbarkeitsstudie Bundesinstitut für Fotografie, S. 15 (zuletzt abgerufen am 18.9.2022).
  • 10Aus den Archiven. Praxisberichte der OSTKREUZ-Gründungsmitglieder Sibylle Bergemann (Estate), Harald Hauswald, Ute Mahler und Werner Mahler, Diskussionsveranstaltung, 23.11.2021, moderiert von Maren Lübbke-Tidow für Lighting the Archive.
  • 11Sibylle Bergemann, Chausseestraße 125. Die Wohnungen von Bertolt Brecht und Helene Weigel in Berlin Mitte, Berlin 2000.
  • 12Heiner Müller (Fotografien Sibylle Bergemann), Ein Gespenst verlässt Europa, Köln 1990.