Ulrike Kuschel
Ich glaube, dass Archive, die nicht digital erschlossen werden und nicht im Internet recherchierbar sind, immer mehr ins Dunkle fallen

LA

Wir haben gehört, dass du Teile deines Archives abgibst, auflöst, verschenkst?

UK

Ja, ich habe mir das eine ganze Weile lang überlegt. Es ist allerdings nicht ganz richtig, dass ich mein Archiv auflöse. Ich gebe Arbeiten in die Hände von Freunden und Freundinnen, Arbeiten, die bei mir schätzungsweise zehn Jahre oder noch länger im Keller standen. Vorher standen sie jahrelang bei meiner Galerie im Lager. Man muss dazu sagen, dass mein Keller nicht wirklich ein Keller ist, sondern ein Lagerraum. Die Sachen waren dort gut gelagert, aber niemand hat sie gesehen, genauso wenig wie im Lager der Galerie. Und als die Galerie geschlossen hat, kamen natürlich noch mehr Sachen zu mir nach Hause und ins Atelier. Weil ich mein Atelier gekündigt habe und jetzt alles zu mir kommt, habe ich beschlossen, dass ich einige Arbeiten verschenke, um Platz zu schaffen. Als Archiv würde ich das nicht bezeichnen. Es sind fertige Arbeiten, die aus dem fotografischen Archiv, das ich natürlich auch habe, herausgekommen sind.

LA

Du arbeitest mit Fotografie. Wie ist dein Zugang?

UK

Meine erste Berührung mit Fotografie war tatsächlich das Fotolabor im Badezimmer meines Großvaters, der Schwarz-Weiß-Fotografien selbst entwickelt hat – meine erste faszinierende Begegnung mit Fotografie. Aber eigentlich bin ich in die Fotografie über das Studium an der Hochschule der Künste in Berlin1 gekommen. Ich habe mir eine ganz gute Kleinbildkamera gekauft. Später kam eine Mittelformatkamera dazu. Als Studentin habe ich in einem Fotolabor gejobbt und durch diesen Job einen Fotografen kennengelernt und dann für diesen Fotografen, Archie Kent, Fotos vergrößert. Das war auch das erste Mal, dass ich etwas mit einem Archiv zu tun hatte, dem Archiv von Archie Kent, der Porträt- und Theaterfotograf war. Er hatte sein Studio in Steglitz.
2003 machte ich dann ein Praktikum bei Ullstein Bild, einem großen, bekannten Pressebildarchiv. Über viele Jahre, bis 2018, arbeitete ich parallel zu meinen künstlerischen Projekten bei Ullstein und hatte mit Fotografien ab dem 19. Jahrhundert zu tun, viel mit alten Originalabzügen und später auch mit den digitalen Fotoeingängen. Meine Aufgabe war, Fotos zu archivieren und Bildtexte zu lektorieren. Hier habe ich den Schritt von der handwerklichen Arbeit, die Fotografie eben auch bedeutet, zu einer beschreibenden oder dokumentierenden Beschäftigung mit Fotografie vollzogen. Und ich stellte fest, dass mich das Verhältnis von Fotografie und Text beziehungsweise zur schriftlich fixierten Bildinformation sehr interessiert. Ich habe mich übrigens selber nie als Fotografin bezeichnet, für mich ist die Fotografie ein Medium, mit dem ich künstlerisch arbeiten kann. Aber es gab eine Zeit, in der ich hauptsächlich mit Fotografie gearbeitet habe.

LA

Wie ist das gekommen?

UK

Mir ging es darum, etwas konkret darzustellen, deshalb habe ich fotografiert. Diese eine Arbeit, die ich jetzt aufgelöst habe, die Russlandbilder2, da kann ich mich erinnern … sie hing in einer Ausstellung und die Besucher und Besucherinnen wollten immer nur wissen: Wo ist das aufgenommen? Damit hatte sich deren Interesse schon erschöpft. Aber für mich hatten die Fotos alle einen besonderen Hintergrund, häufig einen historischen Hintergrund, und mir wurde klar, dass die Beschreibung oder eben die Kontextualisierung von Fotografie ein entscheidender Teil der Fotografie ist. Und deshalb habe ich in der Folge immer mehr mit Text gearbeitet. Eine Arbeit, die Bildbeschreibungen3 basiert tatsächlich auf den Erfahrungen in meinem damaligen Job. Für die Bildbeschreibungen habe ich eine Zeit lang jeden Tag ein Foto ausgewählt, mit dem ich auf der Arbeit zu tun hatte, und mich zu Hause detaillierter damit beschäftigt, so, wie ich das auf der Arbeit nicht machen konnte. Dort ging es ja immer nur darum, die relevanten Informationen, den fotografischen Inhalt zu erfassen, und kaum um die ästhetische Qualität oder um die Bildqualität der Fotografien. Ich habe mir zu den Fotografien Gedanken gemacht und sie beschrieben. In der Folge habe ich andere Fotografien gesammelt – Pressefotos, Privatfotos oder Fotos von Flohmärkten – und daraus Bild-Text-Paare entwickelt. Ich habe zu den Beschreibungen der Fotos aus dem Bildarchiv also andere Bilder gestellt, die in irgendeiner Beziehung zu der beschriebenen Fotografie standen. Aber es gab immer eine mehr oder weniger große Differenz zwischen Text und Bild. Das hat natürlich bei den Betrachter*innen zu Irritationen geführt. Aber irgendwann kam immer der Moment, in dem sie begriffen, dass tatsächlich ein anderes Foto neben dem Text steht. Da fängt man an, sich diese Fotografie vorzustellen, die nicht zu sehen ist, und entwickelt dabei eine eigene Bildvorstellung, und versucht sich das andere Foto selbst zu erschließen, das man neben dem Text sieht.
Dass ich immer weiter ins Archiv abgetaucht bin, hatte aber vor allem damit zu tun, dass ich hauptsächlich mein Geld mit Archivarbeit verdient habe. Als bei Ullstein Bild alle Freiberufler*innen gehen mussten, arbeitete ich im AlliiertenMuseum an einem Digitalisierungsprojekt mit. Digitalisierungsprojekte gab es auch vorher schon bei Ullstein Bild. Jetzt ging es darum, einen Fotobestand der US Army Berlin Brigade aufzuarbeiten. Tausende Negative wurden gescannt. In Zusammenarbeit mit Historikern vom AlliiertenMuseum habe ich dann diese Aufnahmen inventarisiert und in eine Datenbank eingearbeitet. Diese Fotos sind jetzt auch über ein Internetportal verfügbar. Im Internet basiert alles darauf, dass man mit Schlagwörtern oder Stichwörtern sucht. Genau das habe ich für diesen Bestand ermöglicht. Ich habe ihn für Leute erschlossen, die damit wissenschaftlich arbeiten wollen, aber auch für Personen, die sich aus anderen Gründen für die Geschichte der Alliierten in Berlin interessieren.

LA

Das ist ein sehr spezielles und durch den Job definiertes Thema. Was würdest du selbst gerne erschließen?

UK

An Fotobeständen?

LA

Ja.

UK

Ihr meint jetzt das Werk von irgendjemandem, oder?

LA

Das Erschließen eines Werkes von einer Person ist doch das Naheliegendste, oder?

UK

Ich weiß es nicht. Ich glaube, in vielen Museen lagern Bestände, Fotografien, die noch nicht erschlossen sind. Damals, als mein Großvater gestorben ist, habe ich irgendwie nicht aufgepasst. Man kommt ja auch nicht darauf. Meine Großmutter hat seine Negative alle weggeworfen, vorher mit der Nagelschere in der Mitte durchgeschnitten, damit sie keiner mehr verwenden kann. Das hat mir natürlich weh getan. Zum Glück hatte ich mir, als er noch lebte, von ihm ein paar Dias ausgeliehen, die mir wichtig waren, Bilder, auf denen mein Vater zu sehen ist oder mein Großvater die Wohnung fotografiert hatte. Ansonsten ist alles vernichtet worden. Ich denke, das passiert bei ziemlich vielen Amateurfotografen und -fotografinnen. Vieles verschwindet einfach.

LA

Hm.

UK

Andererseits muss auch nicht alles aufgehoben werden.

LA

Du schmunzelst dabei … Das ist ja ein richtiger Akt, dass deine Oma die Negative zerschnitten hat, mit einer Nagelschere.

UK

Ja, vielleicht war es auch nicht die Nagelschere (lacht).

LA

Aber was muss denn (nicht) aufgehoben werden?

UK

Man muss wirklich das jeweilige Archiv anschauen. Hat es eine ästhetische Qualität? Dann gibt es natürlich auch Geschichten wie die von Vivian Maier, da taucht dann auf einmal so etwas auf.

LA

… und wird als Sensation ausgeschlachtet.

UK

Ja!? Das ist natürlich super interessant, auch die Frau dahinter, von der man nicht wirklich viel weiß. Und dann gibt es auch Leute, die haben spezielle Interessen und deshalb etwas ganz Spezielles dokumentiert. Ob das für uns heute oder später eine Relevanz hat? Für diejenigen, die so ein Archiv erben, bedeutet es natürlich auch einen Aufwand, damit umzugehen und es im besten Fall zu erschließen. Vor ein paar Jahren ist eine Verwandte gestorben, die in den 1970ern viel in der Sowjetunion und im Ostblock herumgereist ist und auf Diafilm fotografiert hatte. Ich habe mir zumindest alle Dias einmal angesehen und eine Art Best-of ausgewählt. Ich habe ungefähr ein Zehntel oder noch weniger aufgehoben. Ich weiß aber nicht so richtig, was ich damit anfangen kann oder soll. Die Schwierigkeit bei vielen Amateurarchiven ist, dass man über die Fotoaufnahmen oft nichts weiß. Häufig sind sie nicht beschriftet und nicht datiert und das macht die Erschließung solcher Bestände fast unmöglich. Da kann man die Fotos nur noch formal beschreiben.

LA

Oder sich aneignen.

UK

Ja.

LA

Du hast jetzt zehn Prozent aus der Sichtung ausgewählt. Was glaubst du: Ist diese Auswahl repräsentativ?

UK

Die habe ich natürlich mit meinem eigenen Blick ausgewählt. Meine Tante, hätte sie das mal selber gemacht – aber wie das oft so ist: Man stellt die Dinge in den Schrank und das war es dann. Der Fotograf Hermann Landshoff zum Beispiel hat sein Archiv total geordnet. Er hat seine besten Prints ausgewählt und die Negative vernichtet. Er hat seinen Nachlass so aufgearbeitet, wie er es wollte, dass er erhalten bleibt. Ich glaube, er befindet sich jetzt in München.

LA

Der Nachlass ist in der Pinakothek?

UK

Im Münchner Stadtmuseum.

LA

Wer war Hermann Landshoff?

UK

Landshoff war ein Fotograf, der wie Fred Stein, über den ich gerade die Ausstellung Report from Exile – Fotografien von Fred Stein kuratiert habe,4 1933 aus Deutschland fliehen musste und wie Stein in New York gearbeitet hat. Er war ein sehr erfolgreicher Modefotograf.

LA

In der Fotografie konnten ja relativ früh Frauen beruflich einsteigen. Kannst du sagen, vielleicht auch für das Deutsche Historische Museum, wie dort die Verhältnismäßigkeit ist?

UK

Ich bin nicht sicher, glaube aber, dass die Fotografinnen in der Minderheit waren. Bei Ullstein, da gab es schon einige – vor allem jüdische – Fotografinnen: Yva, Madame d’Ora, Lotte Jacobi. So ein Fall wie Gerda Taro: Sie wurde vergessen, obwohl sie damals bei ihren Zeitgenossen und Zeitgenossinen bekannt war. Es wurde erst in den letzten Jahren wieder publik, dass sie wie Capa im Spanischen Bürgerkrieg fotografiert hatte. Auch bei Fred Stein hat seine Frau Lilo Stein mitarbeitet. 1934 haben sie zusammen in Paris das Studio Stein gegründet und es gibt Fotos, die zeigen, wie sie retuschiert. Aber inwieweit sie auch selbst fotografiert hat, ist unklar. In der Ausstellung im Deutschen Historischen Museum ist ein Foto zu sehen, auf dem sie sich eine Leica umgehängt hat und sie wie eine Fotografin trägt. Und Fred Stein schreibt an einer Stelle, dass sie Leicas, also mindestens zwei, gehabt haben. Lilo Stein ist allerdings später in den USA wieder in ihren Beruf als Kindergärtnerin eingestiegen. Der Sohn hat mir erzählt, dass sie im Kindergarten fotografiert und für sich kleine Alben zusammengestellt hat.

LA

Wie ist das mit der Familie und dem Nachlass zum Beispiel bei Fred Stein?

UK

Fred Stein ist früh gestorben, 1967 mit 58 Jahren. Seine Frau Lilo Stein hat das Archiv weiterhin betreut und Fotos zum Beispiel in das Deutsche Exilarchiv und ins Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz gegeben. Nach ihrem Tod hat ihr Sohn Peter Stein das Archiv übernommen und die Zusammenarbeit mit Bildagenturen intensiviert. Heute werden die Bilder durch die dpa – diese Zusammenarbeit hatte Fred Stein bereits selbst in Gang gesetzt – und durch weitere Agenturen vertrieben, wie Getty, Bridgeman Images und adoc-photos, eine französische Agentur.

LA

Wo befindet sich denn das Fred Stein Archiv?

UK

Im Bundesstaat New York bei Peter Stein. Durch Corona konnte ich das Archiv nicht selbst besuchen, was die Erarbeitung der Ausstellung natürlich erschwerte. Peter Stein hat für mich ins Archiv geguckt und auf Anfrage Karteikarten gescannt, Fotografien und ihre Rückseiten, um bestimmte Fragen, die ich hatte, zu klären.

LA

Du hast jetzt diese große Fred Stein-Ausstellung mit Katalog gemacht. Wie sieht es mit deiner künstlerischen Arbeit oder auch mit dem eigenen Archiv aus?

UK

(lacht) Mein Archiv ist in einem nicht so guten Zustand. Ich habe meine Arbeit nicht gut dokumentiert und müsste das jetzt nachträglich machen, weiß aber bei vielen Fotografien auch nicht mehr genau, wann ich die aufgenommen habe. Das ist eine Sache, die sich oft erst entwickelt: Erst auf dem Weg bekommt man mit, wie wichtig das Archiv ist. Aber vieles weiß man nach ein paar Jahren einfach nicht mehr, die Datierung und andere rudimentäre Informationen.

LA

Ein Archiv beinhaltet also erstmal Informationen?

UK

Das Archiv war für mich vor allem immer ein Ort, an dem ich Geld verdient habe. Aber ja, auch für meine künstlerische Arbeit gehe ich in Archive – das Internet ist auch ein riesiges Archiv –, in Archive oder in Bibliotheken, um zu recherchieren. Und jetzt bei meiner Arbeit im Museum laufen die Sachen zusammen. Das, was mich künstlerisch interessiert hat, spielt in meiner Arbeit am Museum eine große Rolle und ich habe auf eine andere Weise einen Gestaltungsspielraum erhalten.

LA

Gut. Unser Projekt heißt ja Lighting the Archive.

UK

Ihr leuchtet mit der Taschenlampe? (lacht)

LA

Oder mit einem Flutlicht – im Sinne von erhellen oder erkennen, weniger Dunkelkammer. Wir machen eine Feldforschung. Dabei ist das Feld sehr weit, obwohl es um einen kleinen, begrenzten Bereich, die Fotografie, geht. Einfach, weil die jeweiligen Künstler*innen sich in ihren Arbeits- und Archivierungsweisen unterscheiden. Wenn wir jetzt Lighting the Archive als Folie nehmen, siehst du dann Verbindungen zu deiner Arbeit?

UK

Ich benutze das Archiv als Wissensspeicher. Ich ziehe mir die Informationen, Fotografien heraus – das, was ihr meint, ist schon etwas anderes. Da scheint es mir mehr um die Strukturen und den Umgang mit Archiven zu gehen.

LA

Wie sieht für dich die Zukunft des Archivs in Bezug auf Struktur und Umgang denn aus? Das Internet hat dem Archiv das Raumlose zur Seite gestellt. Du hast jetzt eine Ausstellung zusammengestellt, deren Exponate du vor Ort zuvor nicht gesehen hast.

UK

Oh doch, ich habe schon viele Fotos von Fred Stein live gesehen, vorher, in anderen Archiven. Ich glaube, dass Archive, die nicht digital erschlossen werden und nicht im Internet recherchierbar sind, immer mehr ins Dunkle fallen. Natürlich gibt es Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die die Mühe auf sich nehmen, Termine buchen, hingehen und so weiter. Aber ich merke auch, dass viele denken, das, was nicht im Internet recherchierbar ist, gäbe es nicht. Aber wenn man ins Archiv geht, dann findet man ganz viele Sachen.
Vor ein paar Jahren war eine junge Nutzerin in der Bibliothek, eine Jugendliche. Sie hatte im Computer ein Buch recherchiert und die Signatur gefunden. Aber in der räumlichen Struktur der Bibliothek konnte sie sich überhaupt nicht orientieren und fand das Buch nicht. Ein Archiv ist − wie eine Bibliothek − ein konkreter Raum und du brauchst eine Systematik, um die Dinge dort abzulegen und wiederzufinden. Aber es gibt verschiedene Wege, das Archiv räumlich zu gliedern. Diese Systematik spielt im Digitalen, wenn man die Sachen gut verschlagwortet, vielleicht nicht so eine Rolle. Da machst du halt eine Volltextsuche. Und man kann die Dinge auch nicht alle einzeln verzeichnen. Im Archiv der Akademie der Künste zum Beispiel ist nicht jedes einzelne Dokument verzeichnet, sondern nur ein Teil des Bestandes. Dann kannst du nur vermuten, dass es da noch mehr Material gibt und musst vor Ort nachschauen. Es wäre optimal, wenn man alles direkt recherchieren könnte, und den Wunsch haben viele. Aber bei vielen Archiven ist es einfach notwendig hinzugehen und nachzusehen. Einerseits, weil das Material nicht in der ganzen Tiefe erschlossen ist, andererseits, weil bestimmte Informationen – zum Beispiel aus Urheberrechtsgründen oder aufgrund von Persönlichkeitsschutz –, einfach nicht online gestellt werden können.

LA

Digitale Volltextsuche – und dann findet sich jemand vor Ort nicht zurecht. Wenn du so etwas beschreibst, was glaubst du, wie sich die Ablage der Bilder entwickelt? Ist der Fokus der Erfassung eher nach vorne oder eher nach hinten gerichtet – bei der digitalen Erfassung analoger Informationen? Inwieweit werden Informationsstrukturen übernommen, dupliziert? Die Frage betrifft ja alles, was bereits analog als Archiv vorhanden ist.

UK

Da gibt es Leute, die bewerten, was nötig ist zu digitalisieren und zu erfassen. Aber da das Archiv, und ich glaube, das ist auch das, was ihr meint, nach vorne ja auch immer weiter wächst – für die ganzen Ressourcen brauchst du ja Personal auf der einen Seite und auf der anderen Seite Datenspeicher. Es wird einfach nicht möglich sein, alles zu erfassen. Und dann ist es immer eine große Freude, wenn man etwas findet, was man vorher im Internet oder in der Datenbank nicht gesehen hat. Wenn man etwas findet, wovon man vorher gar nicht wusste, dass es das überhaupt gibt, dann ist das toll.

LA

Möchtest du so einen persönlichen Glücksmoment beschreiben?

UK

Ganz aktuell bei der Fred Stein-Ausstellung habe ich solch einen Fund gemacht: Ich wusste, dass Fred Stein im Journalistenverband tätig war, und fand dann heraus, wie der Verband tatsächlich hieß. Und abgesehen davon, dass es dazu einen Bestand im Bundesarchiv gibt, wo ich sehr interessante Dokumente gefunden habe, habe ich mir im Archiv der Akademie der Künste den Nachlass eines Schriftstellers angesehen. Ich wusste, dass dieser Schriftsteller ungefähr zur gleichen Zeit in Paris im Exil war und viele Dokumente aus dieser Zeit gerettet hat. In seinem Nachlass fand ich einen Zeitungsausschnitt aus der Pariser Tageszeitung, eine kurze Notiz zur Vorstandswahl im Verband deutscher Journalisten in der Emigration. Aus ihr ging hervor, dass Fred Stein Vorstandsmitglied wurde. Damit hatte ich dann wirklich ein Objekt, das genau das aussagt, worüber ich in der Ausstellung sprechen wollte. Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas finden würde, dass jemand so etwas aufhebt. Warum Maximilian Scheer den Zettel aufgehoben hat, weiß ich nicht, habe aber eine Vermutung. Aber dass ich diesen kleinen Schnipsel aus Paris von 1937 im Jahr 2020 im Lesesaal der Akademie am Robert-Koch-Platz in Berlin so vor mir auf dem Tisch liegen hatte, war eine Riesenüberraschung und eine große Freude.

LA

Was ist deine Vermutung, warum der Schnipsel aufgehoben wurde?

UK

Es klingt so beiläufig, dass die Pariser Tageszeitung über die Vorstandswahl berichtete. Aber im Hintergrund standen die Auseinandersetzungen um das Pariser Tageblatt. Es gab einen großen Streit, der bis in den Vorstand des Journalistenverbandes reichte, und welcher deshalb auseinanderbrach. Langjährige Mitglieder schieden aus und Fred Stein, der deutlich jünger war, rückte nach. Maximilian Scheer, gleichfalls Mitglied im Journalistenverband, war möglicherweise auch involviert und hat diese Auseinandersetzungen verfolgt. Das war sozusagen das Resultat dieses ganzen Vorgangs: der neue Vorstand. Archive sind Schätze. Und am spannendsten sind die Archive, die nicht bis ins Letzte ausgeleuchtet sind.
In der Umbo Ausstellung5 – ich habe sie nicht in Hannover, sondern hier in Berlin in der Berlinischen Galerie gesehen – lief ein Film vom NDR, wohl kurz vor Umbos Tod gedreht. Er war ja ein unheimlich skurriler Typ, ein toller Typ, und hat als alter Mann noch in der Kestner Gesellschaft gearbeitet. Man sieht ihn im Film, wie er morgens die Arbeiten von Rebecca Horn anstellte und abends den Strom wieder ausstellte. Er erzählte jedenfalls, dass sein Werk so hochkarätig ist, weil nur das Beste übrig geblieben sei. Sein Archiv ist, ich weiß nicht, im Krieg verbrannt, zerstört worden, und es sind nur die Fotos geblieben, die Leute von ihm gesammelt haben. Das hat er mit einem strahlenden Lächeln erzählt. Da hat eine wirklich schlimme Auslese stattgefunden, die Umbo mit seinem Humor in etwas Positives wenden konnte.
Im Ergebnis ist die Auswahl vielleicht vergleichbar mit dem, was Herrmann Landshoff gemacht hat. Aber Landshoff konnte im Gegensatz zu Umbo die Auswahl selbst lenken und hat selbst kuratiert, was erhalten bleiben sollte.

LA

Wie ist das mit der Zeit? Sollte sich jede*r die Zeit für diese Aufarbeitung nehmen ? Oder sind es auch die wirtschaftlichen Umstände, die ein Archiv begünstigen und mitsichern?

UK

Das ist, denke ich, sehr typ-abhängig, welche Prioritäten man hat. Es gibt zum Beispiel die Möglichkeit, gefördert durch die Stiftung Kunstfonds, ein Werkverzeichnis anzulegen. Da gibt es eben Menschen, die sich dahin wenden, weil sie diese Notwendigkeit für sich sehen, und andere denken darüber gar nicht nach.

Footnotes

  • 1Heute: Universität der Künste, Berlin.
  • 2Ulrike Kuschel, pictorial photography (Russlandbilder), 1997. 12 C-Prints, ca. 60 x 60 cm, auf Kapamount, gerahmt.
  • 3Ulrike Kuschel, Bildbeschreibungen I, 2005/06. 30 Collagen, Schwarz-Weiß-Laserprint und Schwarz-Weiß-Fotografien auf Karton, je 29,7 x 42 cm, und Bildbeschreibungen II, 2005/06. 30 Collagen, Schwarz-Weiß-Laserprint und Schwarz-Weiß-Fotografien auf Karton, je 29,7 x 42 cm.
  • 4Report from Exile – Fotografien von Fred Stein, Deutsches Historisches Museum, Berlin, 11.12.2020–20.6.2021.
  • 5Umbo Fotograf, Werke 1926 – 1956, Berlinische Galerie, Berlin, 21.2. – 20.7.2020.